Mission oder Gegenmission
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In ihrem Artikel schreibt Natalya Alexandrovna Adamenko, Lehrerin am Lehrstuhl für Missiologie, Katechetik und Homiletik des St.-Philaret-Instituts, über die Mission der Kirche und ihrer Surrogate. Sie geht auch auf folgende Fragen ein wie: Wie bedeutend ist der „Kampf gegen Sekten" in der Mission und was sind dessen Wurzeln? Führt der Kampf gegen Sekten nicht zu einer verzerrten Wahrnehmung des orthodoxen Christentums? Weshalb sind die größten Bemühungen ausgerechnet auf den Kampf gegen Sekten und nicht auf die Verkündigung des Evangeliums gerichtet?
Die wirklichechristliche Mission ist ein sehr, sehr schweres Werk, da sie einer riesigentäglichen Mühe bedarf. So viel einfacher ist es, „wahrhaft orthodox" zu sein,wenn es außer- und innerhalb der Kirche Feinde gibt, gegen die es zu kämpfen gilt- so wie in den alten sowjetischen Zeiten.
Seit Anbeginn ihresBestehens war die Kirche mit diversen Irrlehren und falschen Lehrern konfrontiert,die entweder das Wesen des Christentums verzerrten oder christliche Begriffe fürihre eigenen Lehren missbrauchten. Bereits die Apostel selbst warnten dieChristen vor den Menschen, „die verkehrte Dinge reden" (Apg. 20, 30), „bösenMenschen und Gauklern" (2. Тiм. 3, 13) und die Berauschung durch „mancherleiund fremde Lehren" (Hebr. 13, 9). Zweifellos schließt die wirkliche christlicheVerkündigung auch den Widerstand gegen die Irrlehren mit ein. Besonders aktuellist dies, wenn diese „falschen Lehrer" eine pseudobiblische (so wie die ZeugenJehovas) oder pseudokirchliche (so wie die Anhänger von Diomid[1])Sprache benutzen und so die Menschen irreführen, die der Religion unkundig und nichtmit dem kirchlichen Leben vertraut sind. Das heißt, dass die Entlarvung derIrrlehren und ihre klare Abgrenzung von der kirchlichen Lehre ein wesentlicher Teilder Verkündigung ist, die der Kirche als Verantwortung auferlegt ist. Doch kanndieses wichtige und nützliche Werk verzerrt werden: Während die Entlarvung derIrrlehren und falschen Lehrer für die Apostel im Vergleich zur eigentlichenVerkündigung des Evangeliums sekundär war, erfolgt in unserer Zeit dieEntlarvung der Falschgläubigen viel häufiger als die Verkündigung desEvangeliums.
In der heutigenorthodoxen Mission nimmt die Gegenmission eine unproportional prominente Stelleein. Manchmal entsteht sogar der Eindruck, dass die orthodoxe Missionausschließlich ein „Kampf gegen die Sekten" und nichts weiter sei. Es istverständlich, dass es für Menschen psychologisch immer leichter ist, sich„gegen einen gemeinsamen Feind" als für „eine gemeinsame Tat" und „dieWahrheit" zu vereinigen. Insbesondere trifft das auf Menschen zu, die erst vorkurzer Zeit in die Kirche gekommen sind (die sog. „Neophyten" oder „Neueinsteiger"),sowohl Priester als auch Laien. Eine instinktiv gewählte psychologische Taktik,zu der Menschen greifen, um sich einem neuen „Team" anzupassen, besteht darin,dass sie zu erkennen versuchen, wer hier „der Feind" ist und diesem „Feind" demonstrativihre Antipathie zeigen.
Allerdings sind die Ursachen für dieheutige Blüte des „Sektenkampfes" meiner Meinung nach weniger in allgemeinenpsychologischen Mechanismen des kollektiven Verhaltens, sondern vielmehr in derGeschichte Russlands des 20. Jahrhunderts zu suchen. Denn die Folgen dessiebzigjährigen atheistischen und totalitären kommunistischen Regimes könnennicht von selbst und schmerzlos vorübergehen. Die Menschen, die in den 1990ern undmehr noch in den 2000ern in die Kirche strömten, waren als Kinder, Teenager undjunge Menschen massiv der sowjetischen ideologischen Propaganda ausgeliefert.Deshalb nehmen sie die Kirche nun meist ideologisch wahr, nämlich als die„richtige Organisation" mit den „richtigen Lehren", und nicht als die Gemeindeder Schüler Christi, die nach dem Evangelium zusammenleben und ihr ganzes Lebennach der Lehre und dem Vorbild unseres Herrn Jesu Christi einrichten. Esgeschah das, was die Hl. Märtyrerin Nonne Maria (Skobzowa) 1936 in Paris aufder Versammlung der orthodoxen Mönche und Nonnen prophezeite. Sie sagte damalsvoraus, dass nach dem Fall der bolschewistischen Regime neue Menschen, die vonder sowjetischen Macht erzogen wurden, in die freie und „mit Geduld ausgestatteteund von der Macht anerkannte" Kirche kommen würden. Zunächst „werden sieverschiedene Ansichten studieren, Probleme wahrnehmen, Gottesdienste besuchenusw. Und wenn sie sich endlich wie wirklich kirchliche Menschen fühlen, werdensie, da sie dem antinomischen Denken völlig unvorbereitet gegenüberstehen,sagen: ‚Zu dieser Frage existieren mehrere Meinungen - welche von denen istwahr? Denn mehrere Meinungen können ja nicht gleichzeitig wahr sein.' Baldwerden sie im Namen der Kirche sprechen. Wenn sie schon im Bereich desmarxistischen Weltverständnisses mit Leidenschaft der Häresie gefrönt und ihreGegner vernichtet hatten, werden sie im Bereich der orthodoxen Glaubenslehre erstrecht Vernichter der Häresien und Hüter der Orthodoxie sein. Karikierend kannman sagen, dass sie für ein falsch gemachtes Kreuzzeichen eine Geldstrafe verhängenund für die Verweigerung der Beichte die Verbannung nach Solowki fordern werden.Was das freie Denken betrifft, würden darauf die Todesstrafe stehen... Hierdürfen wir keine Illusionen haben - im Falle der Anerkennung der Kirche inRussland und im Falle des Wachstums ihres äußeren Erfolges kann sie mit keinenanderen Kader rechnen als denen, die im unkritischen, dogmatischen Geiste derAutorität erzogen sind"[2].
Nicht selten verbreiten solche„Vernichter der Häresien" unter uns „Hütern der Orthodoxie" - natürlich ausIgnoranz und nicht aus böser Absicht -Häresien, die viel schlimmer sind als jene,die sie zu bekämpfen suchen. Während bei den Aposteln und Heiligen Vätern dieEntlarvung der Häresien vom Evangelium ausgeht, bleibt das Evangelium heutzutagevon Vielen ignoriert und stattdessen der Kampf gegen die Andersgläubigen undNicht-Orthodoxen als Wesen und Inhalt des orthodoxen Christentums angesehen.Und, was das Schlimmste ist, diese aggressive Gegenmission speist sich nichtaus Mitleid mit denjenigen, die sich trotz bester Absichten irren, sondern ausdem Hass gegen „die Feinde der Orthodoxie", „die Feinde Russlands" und „dieverdammten Sektierer", die dem bolschewistischen Hass gegen „Volksfeinde",„Konterrevolutionäre" und „Verräter unseres sowjetischen Vaterlandes" völlig gleicht.
Was ist der Sinn jederGegenmission? Eigentlich die aggressive und aufdringliche „Entlarvung". Das,was ein Kontermissionär anstrebt, ist die Unrichtigkeit, die Falschheit, dieSchädlichkeit einer „fremden" Lehre und der Praktiken der „fremden" religiösenOrganisation dem Einzelnen und der Allgemeinheit aufzuzeigen und ein Verbot und(mit List und Tücke) die Vertreibung aller Vereinigungen zu erwirken, die erfür „totalitäre Sekten" und „destruktive Kulte" hält. Der „Sektenkampf" istauch insofern eine bequeme Sache, als er Menschen die Möglichkeit gibt, sichmit minimalem Aufwand an Kräften und Mitteln orthodox zu fühlen, die eigeneZugehörigkeit zum „Glauben der Väter" zu verspüren und dabei ohne tiefeKenntnisse seines Glaubens, ohne Buße und ohne jegliche Berichtigung des eigenenLebens nach dem Evangelium auszukommen.
Hier entsteht für die Kirche undihre Mission eine sehr ernsthafte Verführung. Denn es ist leicht, sowohl mit Außenstehendenals auch mit staatlichen Stellen eine gemeinsame Sprache auf dem Boden des„gemeinsamen Feindes" zu finden, indem man ihnen den Kampf gegen konkreteFeinde („häretische Sektierer") vorschlägt und dadurch seine Zugehörigkeit zurKirche leicht und einfach (und vor allem schnell) beweisen kann. Solch eineSchiefstellung der orthodoxen Mission führt dazu, dass Menschen, die inskirchliche Leben wenig integriert sind, das orthodoxe Christentum verzerrtwahrnehmen. Nichtgläubigen und nicht eingekirchlichten Menschen fällt esmanchmal schwer zu erkennen, dass längst nicht alle orthodoxen Missionäre sichmit einer solchen Gegenmission beschäftigen. Denn es sind eben dieKontermissionäre, die sich in der Öffentlichkeit sehr aktiv präsentieren, indemsie ihre Opponenten ständig mit Schmutz bewerfen, ohne dabei vor Vorspiegelungenfalscher Tatsachen, unverhohleneVerleumdung und Lügen zurückzuschrecken. Darauf beschränken sich auch ihrekirchlichen und christlichen Aktivitäten. Die Erfahrung des kirchlichen Lebenszeigt, dass sich eben solche Menschen für die Gegenmission ereifern, die zutäglichen mühsamen und von außen unbemerkten missionarischen Werken nicht fähigsind.
Es gibt noch eine Ursache, warumsolche modernen orthodoxen „Sektenkämpfer" sich ausgerechnet auf den Kampf gegenSekten und nicht auf die Verkündigung des Evangeliums konzentrieren. Wirkliche Sektierer(im direkten Sinne des Wortes) gibt es wenige, und deshalb sind Angriffe aufsie ziemlich ungefährlich und können kaum massenhafte Unzufriedenheit bei Menschenund Behörden erwecken. Verkündigung des Evangeliums, Entlarvung der Sünde,Aufruf zum gottseligen Leben und Berichtigung der Mängel und Makel desKirchenlebens aber können bei Vielen durchaus scharfe Gegenreaktionenhervorrufen. Hier darf an das Beispiel der Verfolgung des Hl. Bischofs JohannesChrysostomos erinnert werden, der für die Verkündigung des Evangeliums und dieprophetische Entlarvung der Unwahrheit im bereits orthodoxen Byzanz leidenmusste.
Das Wesen derorthodoxen christlichen Mission besteht nicht in Gegenmission, nicht inVerneinung, nicht in Hass, sondern vor allem in der Predigt der GutenNachricht. Vor allem ist ein Missionär berufen, über den gekreuzigten undauferstandenen Herrn Jesus Christus und das neue Leben in IHM zu verkündigen: „predigen wir Christus als gekreuzigt, den Juden einÄrgernis und den Nationen eine Torheit; den Berufenen selbst aber, Juden wieGriechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1. Kor. 1, 23-24). Die Entstehung unddas Wachstum der Sekten ist eher ein inneres Problem der Kirche, das mit derMangelhaftigkeit der positiven Mission und der Aufklärung im unserem„getauften, aber nicht aufgeklärten"[3]Volk. Aggressive Gegenmission stößt Menschen von der Kirche ab und ziehtMenschen mit ganz bestimmter „sektenkämpferischer" Orientierung an; sie führtzur Abschließung der kirchlichen Gemeinschaft, zu Isolationismus, Argwohn und„Hexenjagd" innerhalb der Kirche. Und davon, was überwiegen wird - Mission oderGegenmission - hängt ab, welche Menschen in unsere Kirche kommen - also hängt davon direkt die Zukunft unsererKirche ab.
[1] Diomid Dzyuban (russ.: Диомид, bürgerlich Sergej Iwanowitsch Dzyuban), geb. 1961,ist ein ehemaliger Bischof der Russischen Orthodoxen Kirche. Bevor er im Juni2008 seines Amtes enthoben wurde, war er seit August 2000 Bischof von Anadyrund Tschukotka. Diomid ist bekannt für sein besonderes Engagement; so wetterter u.a. heftig gegen Ökumene, Steuernummern, Handys, Personalausweise,Impfungen und Globalisierung. Er ist der Meinung, dass die russische orthodoxe Kirchenleitungin ihrer Unterstützung der russischen Regierung und Demokratie sowie auch der Ökumeneund des Dialoges mit anderen Konfessionen von der Reinheit der orthodoxenDogmata abgewichen sei. BischofDiomid wurde vom Bischofskonzil im Juni 2008 wegen seiner Insubordination undhäretischen Ansichten suspendiert und zur Buße gerufen. Entgegen diesemBeschluss, zelebrierte Diomid am nächsten Tag die Liturgie und sagte, er habenichts zu büßen. Einige Wochen später veröffentlichte er eine Proklamation, inder er über den Patriarchen Alexij, einige Bischöfe und alle ihre Vorgängerseit der Februarrevolution 1917 für die Zusammenarbeit mit dem republikanischemRegime den Kirchenbann aussprach. Er behauptete, innerhalb der RussischenOrthodoxen Kirche zu bleiben, allerdings ohne der Kirchenleitung Gehorsam zu leisten.Im Oktober 2008 wurde er seines Amtes enthoben und zum einfachen Mönch herabgestuft.
[2]Mutter Maria: Мать Мария.Настоящее и будущее Церкви. Доклад, прочитанный в 1936 году в Париже.Православная община № 31, 1996
[3] So wie Schriftsteller NikolajLeskow in seinem Buch „Die Klerisei"schrieb: „Das russische Volk ist getauft, aber nicht aufgeklärt".
Adamenko, Natalya