Predigt zum Festtag der Muttergottesikone von Kazan´ (Phil. 2:5-11; Lk-. 10:38-42; 11:27-28) (04.11.2025)
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Liebe Brüder und Schwestern,
heute feiert unsere Kirche das Fest der Ikone der Mutter Gottes von Kazan´, welche bei der Befreiung Russlands von den fremdländischen Eroberern im Jahre 1612 geistlich und physisch Sinne im Mittelpunkt des Geschehens stand.
EXKURS: Nach dem Tode Iwan IV (1584) regierte zunächst sein Sohn Fjodor Iwanowitch, wobei sein Vetter Boris Godunov im Hintergrund die Fäden zog. Der andere Sohn des Zaren, der neunjährige Dimitri Iwanowitsch war 1591 in Uglitsch ermordet worden. Mit dem Tode des kinderlosen Iwans 1598 endete die Dynastie der Rurikiden (Rurikowitschi). So füllte der Bojar Boris Godunow (1598-1605) das entstandene Machtvakuum. Die innenpolitische Krise spitzte sich nach dessen Tod zu, als nämlich der Pseudo-Patriarch Ignatij von den polnischen Interventionsarmee und deren Marionette, dem falschen Dimitri-I (der zuvor in Polen zum römischen Katholizismus konvertiert war) auf den Thron des Patriarchen von Moskau gehoben wurde, wobei der legitime Patriarch Hiob (+1609) in ein Kloster interniert wurde. Der Widerstand der Russen unter Wassili Schuijski führte zwar zum Tode des Pseudo-Dimitri-I, doch bald darauf wurde Pseudo-Dimitri-II von den polnischen Interventionsarmee auf den russischen Thron gehoben. Wohlgemerkt, beide – Pseudo-D.-I und Pseudo-D.-II – waren nach Darstellung der polnischen Okkupanten der Sohn Iwans IV, der den Mord 1591 in Uglitsch überlebt haben soll (später gab es noch einen dritten Usurpator). Und schon damals gab es Intrigen, Komplotte und Verrat. Doch eines konnten die Feinde Russlands nicht: den Widerstand der Kirche in Person ihrer Patriarchen Hiob (+1609) und Ermogen (+1612) brechen. Als nach der Entmachtung des falschen Dimitri-II der polnische Thronfolger Wladislaw (formal zur Orthodoxie konvertiert) zum Zaren gekrönt wurde (worauf Schweden als Erzfeind Polen-Litauens in den Krieg gegen Russland zog), war es der eingekerkerte Patriarch Ermogen, welcher die russischen Menschen zum bewaffneten Widerstand gegen die Fremdherrschaft aufrief. Schließlich waren es Fürst Dimitri Pozharsky und der Metzgermeister Kuzma Minin, die in Nizhnij Nowgorod eine Bürgerwehr zusammenstellten, welche nach einem Gebet vor der Ikone der Muttergottes von Kazan´ die ausländischen Streitkräfte aus Moskau vertrieben. Am Ende trat in Kostroma im Ipatiev-Kloster das Landeskonzil zusammen, dass Michail Feodorowitsch Romanow zum Zaren wählte. Es war die Gründung der Romanow-Dynastie in Russland, die bis 1917 bestand hatte.
Am Festtag zu Ehren der Muttergottes von Kazan´ im Gedenken an die Befreiung Russlands von den ausländischen Eindringlingen wird heute auch der Nationalfeiertag der Russischen Föderation begangen. Aus diesem Anlass wird die heutige Predigt eine patriotische sein. Genauer gesagt, sie wird den Patriotismus als solchen zum Gegenstand haben. Ich selbst bezeichne mich, übrigens, als Patriot beider Länder, zu denen ich eine Beziehung habe. Allerdings distanziere ich mich eindeutig von jeder Form von Chauvinismus, also jeglicher Grundhaltung, die das eigene Volk anderen Nationen gegenüber als überlegen betrachtet. Zudem lehne ich jede Form von Hurra-Patriotismus und Abneigung gegenüber anderen Nationen und Kulturen entschieden ab.
Der Begriff Patriotismus kommt von lat. „Patria“ (Vaterland). Und die Liebe zu meinem Vaterland ist für mich als Christ auf einer erweiterten Auslegung des 5. Gebots des Dekalogs (Ex. 20:12) begründet: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir geben wird“). Ich liebe mein Vaterland wie meine Eltern. Als Christ stehe ich meinen Eltern gegenüber stets loyal und respektvoll gegenüber. Beleidigungen, Anfeindungen, Schmähungen und Verleumdungen u.ä. meiner Eltern werde ich stets entschlossen entgegentreten. Das bedeutet aber nicht, dass ich der Meinung bin, dass meine Eltern immer im Recht sind, d.h. allein im Besitz der Wahrheit sind, sich niemals irren oder sich nicht auch mal moralisch verfehlen können. Allerdings werde ich mich auch im Falle einer offenkundigen Verfehlung oder eines klar ersichtlichen Irrtums meiner Eltern niemals zu Häme, Respektlosigkeit oder gar zu Treulosigkeit und Feindseligkeit hinreißen lassen, denn „die Liebe hört niemals auf“ (1 Kor. 13:8). Ich würde ihnen – und dementsprechend auch meinem Vaterland – stets meine Liebe und meine Treue erweisen. Allerdings würde dies mich nicht daran hindern, ihnen aus gegebenem Anlass respektvoll meine Meinung kund zu tun. Sachliche, wohlwollende und konstruktive Kritik sind für mich ein Erkennungsmerkmal der wahren Liebe – zu allem, was einem lieb und teuer ist: Kirchenobrigkeit, Vaterland, Familie etc. Wenn ich in dem einen oder anderen Punkt nicht mit der Kirchenleitung, der Staatsführung oder meiner Familie übereinstimmen sollte, bedeutet dies noch nicht, dass ich ihnen feindlich gegenüber gesinnt bin oder mich von ihnen abwenden wollte. An meiner Loyalität darf kein Zweifel bestehen. Mehr will ich dazu nicht sagen. Jeder muss in Bezug auf die Treue zu seinem Land selbst klarkommen. Die Kirche ist keine Institution, die einem alles bis ins kleinste Detail vorschreibt. Als Christen sind wir zur Freiheit berufen (s. Gal. 5:13). Diese Freiheit ist aber an Verantwortung geknüpft, sonst ist es keine Freiheit. Deshalb bietet uns die Kirche eine Orientierungshilfe in Form der Heiligen Schrift und der Überlieferung (Paradosis, Tradition, свящ. Предание) an. Letztere ist der patristische Kompass dafür, wie wir nicht bloß nach dem Buchstaben, sondern nach dem Geiste die Gebote Gottes bewahren können (s. 2 Kor. 3:6). Und in Kenntnis dieser vom Heiligen Geist inspirierten Quellen können wir mit Gewissheit sagen, dass die Hochachtung vor der weltlichen Macht, egal wie man den Machthabern persönlich gegenübersteht, ein fester Bestandteil des christlichen Weltbildes ist (s. 1 Petr. 2:17). Vielleicht ist es für den einen oder anderen sogar besser, sich überhaupt nicht mit dem politischen Tagesgeschehen zu befassen, doch sind wir alle ausnahmslos aufgefordert, für unsere Obrigkeiten zu beten, „damit wir ein ruhiges und friedliches Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ (1 Tim. 2:2). Amen.