Predigt zum 18. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor. 9:6-11; Lk. 6:31-36) (12.10.2025)
Details Eintrag
Liebe Brüder und Schwestern,
beide heute vorgeschriebenen Lesungen haben die Mildtätigkeit zum Thema. Im zweiten Brief an die Korinther schreibt der Apostel Paulus: „Jeder gebe, wie er sich in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht verdrossen und nicht unter Zwang; denn Gott liebt einen fröhlichen Geber“ (2 Kor. 9:7). Und in der Version der Bergpredigt bei Lukas sagt der Herr: „Gib jedem, der dich bittet“ (Lk. 6:30a).
In den für die Länder der ehemaligen Sowjetunion wirtschaftlich sehr harten 1990-er Jahren erhielten wir als im reichen Westen beheimatete Diözese zahlreiche Bittschreiben. Oft schilderten die Menschen ihre schier ausweglose Situation (Familien mit Kindern hatten es besonders schwer), baten um Geld- und Sachspenden. Nicht selten wurde uns der o.a. Satz aus der Bibel ins Gedächtnis gerufen: «Просящему давай» - „Gib jedem, der dich bittet!“ Ein junges Mädchen aus einer ländlichen Region übersandte uns damals gleich einen Einkaufszettel mit diversen Hygiene- und Kosmetikartikeln, was mich an meine Zeit im damals krisengeschüttelten Weißrussland (1992-95) erinnerte. Während alte Menschen in zerfetzten Kleidern aus den 1970-er Jahren gingen und sich in den Lebensmittelgeschäften nur das Allernotwendigste leisten konnten, trugen junge Menschen moderne westliche Kleidung und betrachteten das Einkaufen als Freizeitvergnügen. Es war herzzerreißend ansehen zu müssen, wie alte Frauen in den Fußgängerunterführungen der Großstädte mit ausgestreckter Hand knieten und man beim Betreten einer Kirche ein Spalier von bettelnden Menschen durchlaufen musste. Natürlich suchte man sich beim Almosengeben diejenigen aus, die einem am bedürftigsten vorkamen und bei denen man vermuten konnte, dass ihre Not unverschuldet war, was wohl die meisten alten Frauen, die ein Leben lang gearbeitet und ihre Kinder großgezogen hatten, betraf. Männern mit augenfälliger Gesichtsrötung gab man hingegen nichts, auch jungen Frauen nicht-slawischer Abstammung, die auf sehr theatralische Art versuchten, auf die Tränendrüsen der Passanten zu drücken.
Wenn wir aber die erwähnten Worte des Herrn wörtlich nehmen, müsste ich doch jedem etwas geben. Auch der heilige Paisios (+1994) empfiehlt, nicht allzu arbeitswilligen Bettlern ein paar kleinere Münzen zu geben, damit sie ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Wenn das an einem Tag zusammengekratzte Geld dann statt für Brot für Alkohol und Tabakwaren verwendet wird, ist der Mensch selbst dafür verantwortlich. Auch eine Lösung.
Der Priester meiner Kindheit, Erzpriester Leonid Graf Ignatieff (+1974) sagte auf Anfrage unsererseits während des Religionsunterrichts, dass er in den 1960-er und 1970-er Jahren noch zahlreichen einheimischen Land- und Stadtstreichern kein Geld gab, dieseт aber immer bereitwillig etwas zu essen gab. Auch ich verfahre für gewöhnlich nach dieser Maxime. Es gibt auch heute noch Obdachlose in den Fußgängerzonen, die sich für ein Stück Pizza oder einen Burger bedanken.
Letztes Jahr war ich auf Pilgerfahrt auf Korfu. Während der Liturgie bittet mich eine junge schwangere Frau nicht griechischer Nationalität um ein Almosen, zeigt auf ihren Bauch mit dem Wort: „Mangiare!“ (ital. für „essen“). Ich kaufte ihr beim benachbarten Imbissstand etwas zu essen und zu trinken. Doch schon dreißig Sekunden später war die Frau wieder in der Kirche und bedrängte die Betenden mit dem gleichen „mangiare, mangiare“. Wohin sie die soeben erhaltene Mahlzeit gelegt hatte, habe ich nicht erkennen können. Für mich kam dies nicht überraschend, aber nun hatte ich ein überzeugendes Argument für meine Mitpilger, beim Almosengeben doch mit Bedacht vorzugehen.
Erst neulich sah ich einen Clip im Internet von einem orthodoxen Priester, der gerade zu dem so oft strapazierten „Gib dem, der dich bittet“ Stellung nahm. Er äußerte die Vermutung, dass unter bitten keinesfalls nur Geld gemeint sein kann. Geld, so fährt der Priester weiter fort, ist ein Gegenwert für Arbeit, das sich jeder selbst verdienen kann. Wenn nun arbeitsfähige Personen andere Menschen um Geld anbetteln, müsste doch die Frage erlaubt sein, warum diese Personen nicht selbst arbeiten (s. 2 Thess. 3:10). Ganz nüchtern betrachtet ist es doch so, dass derjenige, welcher viel Zeit, Mühe und Geld in seine schulische und berufliche Ausbildung investiert hat, sein danach hart erarbeitetes Geld nicht denen zu geben verpflichtet ist, die nichts getan haben und tun wollen, um selbst für ihren Broterwerb aufzukommen. Almosen müssten demnach aus christlicher Sicht nur solchen Menschen zugute kommen, die unverschuldet kurz-, mittel- oder langfristig nicht selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
In einem Religionsbuch für Kinder kommt der Autor auf die Fabel von A.I. Krylow (+1844) „Die Libelle und die Ameise“ zu sprechen. Die Libelle bittet bei Wintereinbruch um Aufnahme im Domizil der Ameise. Die emsige Ameise, welche den ganzen Sommer lang Vorräte angehäuft hatte (in der Fabel sind dies Nahrung und Brennholz), fragt: „Was hast du denn den ganzen Sommer lang getan?“ - „Ich habe getanzt und gesungen“, antwortet die Libelle. „Ach, gesungen hast du?! Prima! Dann geh doch weiter tanzen!“, erwidert die Ameise und schließt die Tür vor der frierenden und hungernden Libelle. Fragen an die Kinder: 1. Was war falsch am vorangegangenen Verhalten der Libelle? 2. Was hätte man am endgültigen Verhalten der Ameise ändern müssen? Meine Antwort: „Hier hast du eine Schneeschaufel. Räum schnell den Weg frei von der Gartenpforte bis zum Haus! Dann nimm die Axt und hacke das Holz für den Ofen. Danach gibt´s Abendessen“. Nur das ist christlich. Amen.