Predigt zum zweiten Herrentag nach Pfingsten / Aller Heiligen des Russischen Landes (Röm. 2:10-16; Hebr. 11:33-12:2; Mt. 4:18-23; Mt. 4:25-5:12) (22.06.2025)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute begehen wir das gemeinsame Fest „Aller Heiligen, die im Russischen Lande aufgestrahlt sind“. Wenn wir uns die Geschichte der Rus´ betrachten, fallen uns Parallelen zur biblischen Heilsgeschichte auf. Die früheste Version dieser „Heilsgeschichte“ wurde Anfang des 12. Jahrhunderts vom heiligen Nestor dem Chronisten verfasst. Die Präambel lautet wie folgt: „Das sind die Erzählungen der vergangenen Jahre darüber, woher das Russischen Land seinen Anfang nimmt, wer als erster in Kiew herrschte und wie das Russische Land entstand“. Bevor der heilige Nestor aber über das Russische Land berichtet, holt er weit in die biblische Geschichte aus, nämlich zu den drei Söhnen Noahs Seth, Cham und Jafet, unter denen die Länder der nach-sintflutlichen Welt verteilt wurden. Wie die biblische Heilsgeschichte eine Chronik von Heiligkeit und Abtrünnigkeit ist, so stellt auch die Abfolge der russischen Geschichte ein bemerkenswertes Zeugnis der Gottesfürchtigkeit aber auch der Apostasie aus. Im Grunde hat sich bis heute nichts daran geändert. Die biblische Heilsgeschichte manifestiert sich in mehreren Etappen: der Entwicklung der noch überschaubaren vorsintflutlichen Welt von Adam bis Noah, der Besiedelung des ganzen Erdkreises durch die Nachkommen der besagten Söhne Noahs nach der Sintflut (ein Meilenstein ist hierbei der Turmbau zu Babylon und die Vermischung der Sprachen) bis zur Berufung Abrahams zum Stammvater von Gottes auserwähltem Volk (ein weiterer Meilenstein ist hier die Übersiedlung Jakobs nach Ägypten und die Entstehung des Volkes Israel in der Fremde) und der Einzug in das Gelobte Land unter Moses und Aaron. Auch die Gründung bzw. Konsolidierung des Königreichs unter David verläuft alles andere als reibungslos; nach ihm zerfällt das Reich kontinuierlich. Doch bei aller Weltuntergangsstimmung, die selbst die von Gott gesandten Propheten erfasst (s. 3 Kön. / 1 Kön. 19:18; vgl. Röm. 11:3-4), endet die Geschichte zu keinem Zeitpunkt. In gewisser Weise ist die neutestamentliche Geschichte der Kirche eine Weiterführung dieses alttestamentlichen Kampfes, in dem am Ende – trotz aller scheinbaren Widrigkeiten und Gegensätze – Gottes Vorsehung zu einer neuen Heilsordnung führt – ja, in dem der Sieger im Grunde immer bereits am Anfang und sogar vor aller Zeit feststeht. Auch der endgültige Schlusspunkt der Weltgeschichte – so furchtbar die ihm vorausgehende Drangsal auch sein mag – wird Jesus Christus als Sieger über alles offenbaren und den Beginn des ewigen Äons kennzeichnen, „damit Gott herrscht über alles und in allem“ (1 Kor. 15:28). Die Heilsgeschichte eines einzelnen Volkes ist eine ständige Wiederholung dieses Kampfes, wobei „statistische“ Feinheiten Gott nicht interessieren. Er kann ein dem Untergang geweihtes Land verschonen, wenn sich in ihm auch nur zehn Gerechte finden (s. Gen. 18:32). So waren Noah, Abraham, Hiob und ihre Familien zusammen mit anderen namentlich nicht genannten Heiligen diejenigen, „deren die Welt nicht wert war“ (Hebr.11:38). Ihnen gleich taten es die Heiligen der christlichen Epochen und Länder, die Gott auserwählt hatte, um in der Finsternis von Seinem Königtum zu künden. Und das, wiederum, betrifft auch uns. Wenn Gott in uns nämlich den festen Vorsatz erkennt, Ihm von ganzem Herzen dienen zu wollen, wird Er auch auf unsere bescheidenen Gebete für dieses Land blicken und irgendwann die Saat aufgehen lassen. Ja, wir können auch Teil dieser Geschichte sein – wir sind es ohnehin, so oder so, denn wir können zu den 5-10% der Guten gehören, die es wohl in jeder Gesellschaft und in jedem Land oder Volk gibt, – also zu denjenigen, die ihre ganze Schaffenskraft dem Wohl der Allgemeinheit zur Verfügung stellen (und letztlich bewusst oder unbewusst Gott dienen) – oder zu den dazu entgegengesetzten 5-10% der Bösen, die den Sinn ihres Daseins darin sehen, unter verführerischen Parolen falsche Ideale und zerstörerische „Werte“ zu proklamieren. Als dritte Möglichkeit bleibt uns natürlich auch die Zugehörigkeit zur Hammelherde, bestehend aus den restlichen 80-90%, die sich derjenigen Seite von den beiden erstgenannten unterordnen werden, welche mehr zu investieren bereit ist. Für mich wäre diese Alternative aber, ehrlich gesagt, nicht annehmbar, weil es dauerhaft und ontologisch keine „Neutralität“ zwischen Gott und dem Widersacher geben kann (s. 2 Kor. 6:14-18). Klar meinen die üblichen 80-90% (mindestens!) immer, auf der sicheren Seite zu sein, aber das ist ein Trugschluss. Wer z.B. meint, seine Kinder taufen zu lassen und sie dann in Bezug auf ihr Seelenheil ihrem Schicksal überlassen zu können (wobei dann die von satanischen Kräften dominierte Gesellschaft bereitwillig in die Bresche springen wird), der versündigt sich an Gottes Bestimmung für ihn.
Ich kann nicht für Gott sprechen, das ist klar. Und doch meine ich, dass es sein kann, dass der Herr in Bezug auf Russen und Deutsche unterschiedliche Maßstäbe anlegen wird. Wenn sich im russischen Volk, dem so viel gegeben worden ist (s. Lk. 12:48), na, sagen wir mal, 15% Gerechte finden, könnte das in Gottes Augen bei der Verkündigung des Gesamturteils „zu wenig“ sein; wenn sich hingegen unter den Deutschen auch nur 1% als würdig erweist, kann das im Hinblick auf Gottes Langmut mitunter auch „ausreichend“ sein. Russen, Griechen, Serben, Rumänen, Bulgaren, Makedonier, Moldawier, Antiochener etc. sind nicht ohne Gottes Vorsehung in Westeuropa heimisch geworden. Es wäre unverzeihlich, wenn sie auf ihrer „Schatztruhe“ sitzen blieben und sich nicht darum bemühten, den Schlüssel für dieselbe zu finden, damit sie selbst – aber auch die Bewohner der Länder, in denen sie ihre neue Heimat gefunden haben – an diesem ewigen Reichtum teilhaben können. Amen.