Predigt zum 19. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor. 11:31-12:9; Lk. 6:31-36) (15.10.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
der Herr bereitet Seine Jünger auf die Verkündigung des göttlichen Wortes vor. Dabei nimmt Er ihnen jegliche Illusionen: „Seht, Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe: seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!“ (Mt. 10:16). Er stellt ihnen in Aussicht, dass sie vielerlei Drangsal zu erdulden haben werden. Die einen Zuhörer werden ihre Verkündigung annehmen, andere wiederum werden sie ablehnen und die Jünger Christi verfolgen und vor Gericht bringen, wo sie misshandelt und Rechenschaft vor den Machthabern ablegen werden. Aus rein menschlicher Perspektive könnte man demnach meinen, dass reziproke Hass, Abneigung und Vergeltung gegenüber denen, die Gutes mit Bösem vergelten (s. Ps. 37:21), aus Sicht der Glaubensboten nur folgerichtig sei. Nicht so aber für die Jünger des Herrn. Nur Ihm gebührt Vergeltung (s. Röm. 12:17-21; vgl. Spr. 17:13). Seine Jünger – und mit ihnen wir alle – sollen unsere Feinde lieben (s. Mt. 5:44; Lk. 6:27). Bei dieser Belehrung geht der Herr auf zweierlei Weise vor: Erstens beruft Er Sich auf das Naturgesetz (die „Goldene Regel“), indem Er Seine Nachfolger dazu anhält, das, was sie von anderen für sich erwarten, auch selbst diesen gegenüber tun (s. Lk. 6:31). Es ist die Grundregel für jedes menschliche Miteinander, und es wäre schon sehr viel erreicht, wenn sich alle an diese elementare menschliche Verhaltensweise in Politik, Gesellschaft und im privaten Bereich halten würden. Doch die Realität sieht anders aus. Für eine Beleidigung kann man heute krankenhausreif zusammengeschlagen werden, auf Artilleriebeschuss mit relativ geringem Sachschaden folgen Luftschläge mit vielen Toten etc. Auch so mancher Ehrenkodex erweist sich in dieser Hinsicht als unmenschlich. Die uns aus der klassischen Literatur bekannten Duelle, durch welche Männer der Gesellschaft für ihre gekränkte Ehre Satisfaktion einforderten, widersprachen auf geradezu diabolische Weise dem Gebot der Feindesliebe und waren fürchterlicher Ausdruck der Missachtung der Worte des wichtigsten Gebets der Christen schlechthin (s. Mt. 6:12; vgl. Lk. 11:4). Wenn also nicht selten Christen zu solchen Vergeltungsmaßnahmen greifen, was kann man da von Atheisten und Andersgläubigen erwarten?! Deshalb auch die Ermahnung des Herrn und der Hinweis darauf, dass wir uns als Christen auf keinen Fall auf das moralische Niveau von Heiden herablassen dürfen. Soweit also die Ermahnung gemäß natürlicher ethischer Überlegung.
Als zweite Motivation stellt der Herr die geistliche Dimension der Vergebung in Aussicht, die allein als christliche Alternative gelten kann. „Ihr aber sollt eure Feinde lieben (…). Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk. 6:35-36).
Wenn der Herr Sich gegenüber Undankbaren und Bösen gütig erweist (s. Lk. 23:34), so müssen auch wir Ihm nacheifern. Es ist der Weg der Nachahmung Gottes, für den es einen großen Lohn gibt. Oder kann man sich etwas Großartigeres vorstellen als durch den Einsatz für den Frieden Christi zu den Söhnen Gottes hinzugezählt zu werden (s. Mt. 5:9; vgl. Röm. 8:21)?!..
Der Lohn ist das Königtum der Himmel (s. Mt. 5:3,10; Lk. 6:23). Nicht erst vom Apostel Paulus wissen wir, dass Menschen zu Lebzeiten einen Vorgeschmack auf das gewürdigt werden können, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben“ (1 Kor. 2:9; vgl. Jes. 64:3). Schon der Herr hatte vor Seiner Verklärung angekündigt, dass einige unter den zu jener Zeit Anwesenden das Königtum der Himmel in seiner ganzen Pracht sehen würden (s. Mt. 16:28; Mk. 9:1; Lk. 9:27). Im heute vorgelesenen Abschnitt aus dem zweiten Korintherbrief spricht der Apostel davon, dass er vierzehn Jahre vor dem Verfassen des Schreibens ins Paradies entrückt wurde, wo er unsagbare Worte hörte, „die ein Mensch nicht aussprechen kann“ (1 Kor. 12:4b). Es war ein Einblick in die Herrlichkeit des Königtums Gottes, welches seit Erschaffung der Welt für die vom Himmlischen Vater gesegneten treuen Diener Gottes bestimmt ist (s. Mt. 25:34). Die heiligen Väter unterscheiden zwischen dem Paradies, das der Mensch durch Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi wiedererlangt hat, welches die Seelen der im Glauben Verstorbenen bereits jetzt in Besitz nehmen können (s. Lk. 23:43), und dem Königtum Gottes, das erst nach dem Jüngsten Gericht zugänglich sein wird (s. Mt. 25:34). Das ist logisch, denn der Mensch durchlebt drei Phasen seines Daseins: a) das Leben der Seele im Leib während des irdischen Lebens; b) das Leben der Seele nach der Trennung vom Leib in der Zeit zwischen dem Tod und dem Jüngsten Gericht; und schließlich c) das ewige Leben der Seele nach ihrer Wiedervereinigung mit dem Leib in der allgemeinen Auferstehung. Da wir im Falle der Entrückung des Apostels Paulus in das Paradies nicht wissen, „ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah“ – nur Gott weiß es – (2 Kor. 12:3-4), können wir anhand seiner Schilderung auch nicht festmachen, ob der Apostel in der zeitweiligen Ruhestätte für die Gerechten gewesen war oder schon im zukünftigen ewigen Königtum der Himmel. Wir wissen nur, dass Gott über Materie, Raum und Zeit, die ER geschaffen hat, steht, und es für Ihn nicht unmöglich war, dem Apostel Einblick auch in die zukünftige Welt zu verschaffen. Wie auch immer, dieses Zeugnis wurde uns als Bestärkung im Glauben und als Ansporn gegeben, hier auf Erden ein Leben nach den Geboten Christi zu führen, damit wir der paradiesischen Vorfreude nach unserem Ableben und der ewigen Wonne im Königtum Gottes teilhaftig werden (s. Mt. 7:21; Offb. 21:27). Amen.