Predigt zum 21. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 2:16-20; Lk. 16:19-31) (06.11.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
kaum jemand wird beim Hören des heutigen Evangeliums daran gedacht haben, dass das Gleichnis vom reichen Mann und vom Bettler Lazarus u.a. auch ein anschauliches Beispiel für die Diskrepanz zwischen weltlichem und geistlichem Denken ist. Nach weltlicher Gesetzgebung war der Reiche uneingeschränkt Eigentümer über ein großes Vermögen, das es ihm ermöglichte, „in Freuden“ zu leben (s. Lk. 16:19). Lazarus hingegen hatte keinen gesetzlichen Anspruch auf Ersatzleistungen, musste als kranker und nicht erwerbsfähiger Bettler von Almosen leben, die er mutmaßlich aus den Händen von Leuten empfing, die selbst nur das Allernotwendigste für ihren Lebensunterhalt hatten. Die im Überfluss Lebenden sahen sich hierfür nicht als zuständig an, wofür unser Reicher, vor dessen Haustür Lazarus schmachtete, sinnbildlich ist. Er dachte nicht einmal daran, die von seiner üppigen Tafel übriggebliebenen Speisereste dem Hunger leidenden Lazarus zu geben (s. 16:21). Diese Menschenverachtung sowie die aus ihr resultierende himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit sind so alt wie die Menschheit selbst. Ich muss sofort an das Elend von Millionen Menschen nach dem Zerfall der Sowjetunion und an den sagenhaften, quasi über Nacht „legal“ aus dem Volkseigentum zusammengerafften Reichtum einiger Weniger denken. Entscheidend war nur, wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort an den Schalthebeln der Macht saß. Solche Menschen sahen dann völlig teilnahmslos zu, wie das Land wirtschaftlich ausblutete und Millionen ihre Lebensgrundlagen verloren und um ihre nackte Existenz bangen mussten. Die Neureichen sahen weg wie der Mann, vor dessen Toreinfahrt ein Armer langsam krepierte, auch wenn die räumliche Entfernung von Marbella oder Biarritz nach Tambow oder Woronezh eine andere gewesen sein mag. Ein schlechtes Gewissen hatten die meisten von ihnen kaum. Auch das kennen wir aus unserem Fallbeispiel aus der Heiligen Schrift. Doch die Abrechnung kommt ganz bestimmt. Dann wird es längst zu spät sein darüber zu reflektieren, welche wahre Zweckbestimmung ihre günstige Lebenssituation für sie gehabt hatte.
Nach Gottes Vorsehung ist Ungleichheit in nahezu allen Dingen ein natürlicher Tatbestand. Absolute Gleichschaltung im Hinblick auf den Zugang zu materiellen Gütern und auf die Inanspruchnahme irdischer Annehmlichkeiten ist nicht nur völlig utopisch, sondern auch widersinnig. Ungleichheit ist aber nicht gleich Ungerechtigkeit. Es liegt in der Natur der Sache, dass Gott jedem Menschen das ihm gehörige Maß an Lebensgütern, praktischen Fertigkeiten und individuellen Charaktereigenschaften zugemessen hat. Aber nach Gottes Plan geschah dies, damit die Starken die Schwachen unterstützen (s. Jak. 2:15-16; 1 Joh. 3:17-18; Röm. 15:1-2; Gal. 6:2). Nach der Interpretation der heiligen Väter sind Wohlhabende nicht Eigentümer materieller Güter, sondern Sachwalter Gottes für die Bedürftigen. Eine große und schwere Verantwortung, aber auch eine schöne Aufgabe, wenn man ein liebendes Herz hat.
Wie wir aus den Heiligenviten wissen, verzichteten zahlreiche gottesfürchtige Menschen auf ihr Vermögen und ihre gesellschaftliche Stellung, um Christus nachzufolgen (s. Mt. 19:21; Mk. 10:21; Lk. 18:22). Andere behielten ihre Besitztümer, um dadurch Notleidenden bei der Bewältigung ihrer schwierigen Lebensverhältnisse beistehen zu können. Diese beiden Varianten bezeichnen den Weg der geistlichen Vervollkommnung, wobei erstere theozentrisch ausgerichtet ist, letztere eher anthropozentrisch, was bei der richtigen geistlichen Ausprägung jedoch keinen Widerspruch darstellen soll. Es sind eben zwei verschiedene Lesarten des Doppelgebots von der Liebe zu Gott und zu den Menschen (vgl. 1 Joh. 4:20-21). Diese beiden Wege können optional beschritten werden, aber nur wenige sind dazu bereit bzw. in der Lage. Eine Pflicht zur selbstauferlegten Armut zugunsten des Nächsten besteht jedenfalls nicht. Rein ökonomisch betrachtet wäre das sogar unvernünftig und nicht nachhaltig. Armut und freiwillige Keuschheit liegen ja eng beieinander. So wie es nicht möglich und nicht erstrebenswert ist, dass alle Christen ins Kloster gehen, so können nicht alle in freiwilliger Armut leben. Jeder muss seine Berufung erkennen und danach seinen Lebensweg beschreiten. Das hätte auch dem lebensbejahenden Reichen aus unserem Gleichnis die Möglichkeit eröffnet, das irdische Leben zu genießen, aber gleichzeitig auch an die zu denken, die keine Mittel dazu haben, auch nur ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Gott stellt jedem in vergleichbarer Position die Mittel zur Verfügung, um durch Werke der Barmherzigkeit etwas für sein Seelenheil zu tun. Die Leidensgenossen des Lazarus erwirken ihr Heil dagegen durch Geduld und Liebe. Jedenfalls wird im Gleichnis mit keinem Wort erwähnt, dass Lazarus Gott wegen seines harten Loses anklagte oder aber seinen potentiellen Wohltäter verurteilte. Beide hatten die Möglichkeit, das ewige Leben zu gewinnen, aber nur Lazarus machte Gebrauch davon. Die irdische soziale Ungleichheit kehrte sich in himmlischer Perspektive gewissermaßen ins Gegenteil um: Lazarus hatte es zweifellos leichter in das Königtum Gottes einzugehen als der reiche Mann von nebenan (s. Mt. 19:23-24; Mk. 10:23-25; Lk. 18:24-25). Und doch verwehrt uns der Herr nicht Seinen Trost. Wir alle sind Sünder, die zu sehr an irdischen Dingen hängen und immer erst dann zu Gott flehen, wenn uns das Wasser bis zum Halse steht. Wir alle sind ungeeignet für das Himmelreich Gottes (vgl. Lk. 9:62). Dennoch verzweifeln wir nicht bezüglich unserer Errettung, denn „was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich“ (Lk. 18:27; vgl. Mt. 19:26; Mk. 10:27). Will der Herr vielleicht damit andeuten, dass Er uns auf unseren Irrwegen durch „Umleitungen“ nachhilft, damit wir doch noch gerettet werden?!.. Amen.