Predigt zum 23. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 2:4-10; Lk. 8:41-56) (20.11.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
nach der Austreibung der Dämonen aus dem Besessenen von Gerasa fährt der Herr wieder zurück an das entgegengesetzte Ufer nach Kafarnaum. Trotz des wunderbaren Zeichens im Lande der Gedarener war Seine Mission, in nackten Zahlen ausgedrückt, scheinbar ein Misserfolg. Der betriebene Aufwand steht in keinem Verhältnis zum erzielten Erfolg: ein einziger Bewohner – der von Christus Geheilte – konnte im ganzen Land für das Himmelreich gewonnen werden. Ein Fiasko? Ein Debakel für den Herrn?.. Keineswegs! Denn Gottes „Arithmetik“ ist nicht die der Menschen. Auf YouTube sah ich mal einen (griechischen) Bischof des Patriarchats von Alexandria (dessen kanonisches Territorium ganz Afrika umfasst), der zu Fuß in die entlegensten Winkel seiner Diözese ging, wo man sonst nur Nashörner, Giraffen und Leoparden trifft, gelegentlich auch ein paar Menschen. Dieser Missionar erklärte seine Vorgehensweise folgendermaßen: „Wenn dabei auch nur eine Seele gerettet wird, hat sich die ganze Mühe gelohnt“. Richtig, denn nach himmlischer Rechenart ist eine Menschenseele mehr wert als die ganze Welt (s. Mt. 16:26; Mk. 8:36; Lk. 9:25). So groß ist die Liebe Gottes zu jedem Einzelnen! Das zeigt sich dann auch bei der Rückkehr des Herrn nach Kafarnaum, wo Er bald darauf von Jairus, dem Synagogenvorsteher, flehentlich gebeten wird, dringend in dessen Haus zu kommen. Seine zwölfjährige Tochter liegt im Sterben, es zählt jede Minute. Und der Herr macht sich auf den Weg zum Haus des Jairus, denn niemandem verwehrt Er Seine Gnade. Das Bemerkenswerte an der entstandenen Situation ist aber der Umstand, dass Jairus zum klerikalen Establishment gehört. Als Synagogenvorsteher eines regionalen Wirtschafts- und Handelszentrums muss er lokal doch eine gewisse gesellschaftliche Stellung eingenommen haben, und normalerweise würde so einer dem Wanderprediger aus Nazareth wohl eher reserviert gegenüberstehen. Doch jetzt hat ihn die Not ergriffen, da sein einziges Kind im Sterben liegt, und so fällt er dem Herrn zu Füßen und bittet Ihn, in sein Haus zu kommen. Der Herr macht kein Aufsehen aus der für den Synagogenvorsteher misslichen Lage – es geht ihm jetzt ja auch nicht um gesellschaftliche Konventionen, sondern um das Leben seiner Tochter. Und der Herr erweckt mit keinem Wort und mit keiner Geste den Anschein, er genieße Seinen moralischen Triumph über die Kaste der religiösen Anführer. So kleinlich können womöglich Menschen sein; bezogen auf den Menschensohn wäre solch ein lästerlicher Gedanke jedoch ein Unding. Jedenfalls folgt der Herr dem Jairus in dessen Haus. Jeder Seelsorger weiß: die Gnade Gottes ist ihm gewiss, wenn er trotz aller widriger Umstände (Müdigkeit, Unwohlsein, Zeitknappheit, körperliche und seelische Überlastung etc.) sich aufrafft und, wenn nötig, auch kurzentschlossen denen im Namen Gottes zu Hilfe kommt, die nach dieser Hilfe verlangen. Vladyka Vasilij (Rodzianko, + 1999), während des Kalten Krieges Erzbischof von San Francisco (Orthodox Church of America), wurde während einer seiner zahlreichen Besuche in der Sowjetunion zu einer kranken Frau gerufen, die bei ihm beichten und die Heilige Kommunion empfangen wollte. Diese Frau lebte aber weit außerhalb auf dem Lande, von wo sie ein Auto für den Erzbischof nach Moskau schickte. Dieser zögerte keine Sekunde, packte alle notwendigen Sachen und setzte sich in das ihm gesandte Auto. Unterwegs auf der Landstraße fuhren Vladyka und sein Fahrer an einer Unfallstelle vorbei. Zwei Männer waren zu sehen: der Vater lag blutüberströmt im Auto, sein unverletzter Sohn stand voller Verzweiflung neben dem Unfallwagen. Sofort bat Vladyka darum, anzuhalten. Vom jungen Mann erfuhr er, dass der Vater, der noch ansprechbar war, gläubig sei. Vladyka ging zu ihm und fragte ihn, wann er das letzte mal gebeichtet und die Heiligen Gaben empfangen habe. Der man antwortete, er gehe praktisch nie in die Kirche (in der Sowjetunion waren „aktive“ Kirchen besonders auf dem Lande spärlich gesät), habe aber einen geistlichen Vater. Auf die Frage Vladykas, wer dieser Geistliche sei, antwortete der Mann: „Ich kenne nur seine Stimme aus den religiösen Sendungen von Voice of America. Es ist Batiuschka Vasilij Rodzianko“. Der Mann beichtete erstmals in seinem Leben und empfing die Heiligen Gaben aus den Händen seines Beichtvaters. Kurz vor Eintreffen des Rettungswagens verstarb der Mann noch am Unfallort. Doch seine Seele war beim Herrn!
Wir sehen hier ein Beispiel dafür, was die Bereitschaft, dem Herrn nachzufolgen, bewirken kann. Vladyka Vasilij hatte sicher wichtige Termine von internationaler Bedeutung an diesem Tag, doch er folgte dem Ruf Gottes und erwies sich als würdiger Nachahmer unseres Herrn Jesus Christus, Der ja, unterwegs in das Haus des Jairus, spontan die an Blutfluss leidende Frau heilte. Ähnlich wie der Vorsteher der örtlichen Synagoge hatte diese Frau offensichtlich ebenfalls mal eine hohe soziale Stellung innegehabt, doch die seit zwölf Jahren andauernde Krankheit hatte sie ihres Ansehens und ihres Vermögens beraubt (s. Mk. 5:26). Aus weltlicher Perspektive gesprochen, hatte sie nichts mehr. Ohne Glauben an die Hilfe von oben wäre sie auch tatsächlich am Ende gewesen. Da hört sie von Jesus aus Nazareth, dass Er wieder in der Stadt sei, und wagt sich unter dem Schutz der Anonymität an Ihn heran, um den Saum Seines Gewandes zu berühren. Hätte sie noch im mondänen Glanz ihres vormaligen Daseins gelebt, wäre ihr wohl nie der Gedanke gekommen, sich auf „dieses Niveau herabzubegeben“. Doch die körperliche Krankheit und die soziale Not lassen diese dünkelhafte geistliche Blindheit wie Schuppen von ihren Augen fallen. So kommt sie zum Glauben an den Erretter unserer Seelen und geht in Frieden nach Hause (s. Lk. 8:48). Amen.