Predigt zum 22. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 6:11-18; Lk. 8:41-56) (21.11.2021)
Liebe Brüder und Schwestern,
wir erfahren in der heutigen Lesung aus dem Evangelium von zwei Wundern des Herrn, die Er in kürzester zeitlicher Abfolge vollbringt. So heilt der Herr vor der Erweckung der zwölfjährigen Tochter des Synagogenvorstehers eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutfluss gelitten hatte. Obwohl es sich bei dem Doppelwunder nicht um Gleichnisse, sondern um historische Fakten handelt, enthalten auch diese eine tiefe allegorische Symbolik.
Zunächst wäre da der Synagogenvorsteher Jairus. Wenn dieser Mann im belebten regionalen Handelszentrum Kafarnaum eine solch hohe Stellung einnahm, muss er ohne Zweifel zum Establishment gehört haben, das in seiner überwiegenden Mehrheit unserem Herrn abweisend bis feindselig gegenüberstand. Es waren ja eher die einfachen Menschen, die sich zu Ihm zugezogen fühlten. Die Oberschicht sah in Christus einen Aufwiegler, der ihre Privilegien anprangern und das Volk gegen sie aufbringen konnte. Doch in der Tiefe ihres Herzens mussten sie alle erkannt haben, dass der Herr mit göttlicher Vollmacht (bzw. Allmacht) handelt. Nun liegt die Tochter des Synagogenvorstehers im Sterben. Der Vater wirft alle Ressentiments über den Haufen und fällt dem Herrn demütig zu Füßen, bittet Ihn, eilends in sein Haus zu kommen, bevor seine Tochter gestorben ist. Unterwegs aber berührt die an Blutfluss leidende Frau den Saum Seines Gewandes und outet sich, nachdem sie es vergeblich zu verbergen versucht hatte, als Übertreterin des Gesetzes (vgl. Lev. 15:19-33). Auch sie, die wohl ebenfalls zur gesellschaftlichen Elite gehörte und zunächst all ihre Zuversicht in ihre beträchtlichen finanziellen Mittel und in die Heilkunst der Ärzte gesetzt hatte, hat längst alle Hoffnung auf irdische Hilfe verloren. Wie Jairus überwindet sie die Arroganz der Macht und des Reichtums und fällt ebenfalls demütig vor dem Herrn nieder. Dieser hatte bewusst vor der Ihn umringenden Menschenmenge verkündet, dass die heimliche Annäherung an Ihn nicht kontaktlos geschehen war. Demnach wäre der von der unreinen Frau Berührte nach dem Buchstaben des Gesetzes Selbst „unrein“ – was aber nicht sein kann. Die Gebote Gottes sollen Leben bringen, und der Herr wird dies umgehend beweisen, wenn nötig auch durch die (formale) Übertretung des Gesetzes. Er heilt die Frau, die nach dem Verlust ihres Vermögens alles Irdische vergessen hatte, dafür aber den wahren himmlischen Schatz gefunden hat. „Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!“ (Lk. 8:48).
Nun aber kommt die Nachricht aus dem Hause des Jairus, dass jetzt alles zu spät sei. Schluss. Feierabend. „Bemühe den Meister nicht länger!“ Es ist wie bei der an Blutfluss leidenden Frau: wenn die Hoffnung dahingeschwunden ist, kann nur noch Gott helfen. „Sei ohne Furcht; glaube nur, dann wird sie gerettet“ (Lk. 8:49,50). Die Blutflüssige und Jairus klammern sich in ihrer verzweifelten irdischen Ausweglosigkeit an den Herrn. Würde der Herr nach üblicher pharisäischer Gerechtigkeitswahrnehmung verfahren, müsste Er ihnen beiden sagen: „Ach, jetzt, wo das Wasser euch bis zur Halskrause steht, da kommt ihr zu Mir! Wo wart ihr denn früher gewesen, als es euch noch gut ging?“… Doch nichts dergleichen kommt von unserem Herrn. Er geht wortlos mit dem Synagogenvorsteher in dessen Haus und lobt die Frau für ihre Courage. Also dürfen wir nach unseren zahllosen Verirrungen auf unserem Lebensweg einen ähnlich milden und einfühlsamen Herrn erwarten? Von Ihm kommt doch alles...
Im Haus des Jairus herrscht Wehklagen. Aber wer weint da? Die Verwandten, Freunde und Nachbarn, die Dienerschaft? Bestimmt. Aber ihnen wäre unter diesen Umständen gewiss dann nicht zum Lachen zumute (s. Lk. 8:53). Wer also dann? - Damals gab es bezahlte (männliche) Flötenspieler und (weibliche) Wehklagende (s. Mt. 9:23), die, ähnlich wie heute die Trauerredner bei konfessionslosen Begräbnisfeiern, überhaupt keine persönliche Beziehung zu den Betroffenen hatten. Diese Theatralik will der Herr in diesem Moment nicht dabeihaben. Es würde bei dem, was nun geschehen wird, bedeuten, das Heilige den Hunden zu geben und Perlen vor die Schweine zu werfen (s. Mt. 7:6). Also tröstet Christus die Eltern, verzichtet aber auf jegliche Publicity (s. Lk. 8:56). Er erweckt ihr Kind und überwindet „das Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm. 8:2), wodurch der Herr erneut zum „Gesetzesbrecher“ wird.
Allegorisch bedeuten diese Ereignisse, dass der Herr uns von der Unreinheit der Seele heilen (vgl. Jes. 6:7; 43:25; 44:22) und vom Tode befreien wird (vgl. Ps. 9:14; 32:19; 55:14). Nur müssen wir glauben. Und wir müssen erkennen, dass Sünde und Tod nur „im Paket“ zu betrachten sind. Eines bedingt das Andere.
Mit zwölf Jahren wurden die Mädchen verlobt, ein oder zwei Jahre später verheiratet. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ca. 50 Jahren begann man zeitig mit der Familiengründung, wollte man noch seine Kindeskinder wachsen sehen (s. Ps. 127:6). Studien- und Ausbildungszeit gab es nicht. Dieses junge Mädchen steht demnach für die „Braut Gottes“ – Sein Volk Israel (vgl. Offb. 21:2,9). Im Gesamtkontext beider Ereignisse erkennen wir, dass Israel aufgrund seiner Sünden tot ist. Doch jetzt kommt Christus zu ihm; für Ihn existiert der Tod nicht. Er kann Israel von diesem Schlaf (s. Lk. 8:52) erwecken. Und so spricht der „Bräutigam“ prophetisch (vgl. Mt. 9:15; Mk. 2:19-20; Joh. 3:29) zur „Braut“: „Mädchen, steh auf!“ (Lk. 8:54; vgl. Hld. 2:10,13b).
Dem Herrn bleibt oftmals keine andere Wahl, als uns durch aussichtslose Lagen an Seine alles verzeihende Güte zu erinnern, damit wir wenigstens so eine „neue Schöpfung“ (Gal. 6:15; vgl. 2 Kor. 5:17) werden. „Friede und Erbarmen komme über alle, die sich von diesem Grundsatz leiten lassen, und über das Israel Gottes“ (Gal. 6:16), lesen wir heute im Brief an die Galater. Amen.
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2021
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