Predigt zur Internationalen Gebetswoche der Evangelischen Allianz in Weimar Ort: Jugend- und Kulturzentrum „Mon ami“ Thema: „Lebenselixier Bibel – aufmerksam lesen - read“ (12.01.2021)
Liebe Brüder und Schwestern,
Thema unserer heutigen Zusammenkunft ist die eingehende Lektüre der Heiligen Schrift: „Lebenselixier Bibel – aufmerksam lesen - read“. Als nicht mehr junger Mensch kann ich mich noch an eine Zeit erinnern, in der man in der Sowjetunion das Evangelium von Hand abschrieb und an andere weitergab, während in den USA in jedem Hotelzimmer auf dem Nachttisch ein Gratisexemplar der Bibel zum Mitnehmen lag. Wir leben seit jeher in jeder Hinsicht in einer Welt der Extreme. Jetzt ist der biblische Wissenshunger in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zwar weitgehend gestillt, doch gibt es immer noch Staaten weltweit – Nordkorea und Saudi-Arabien beispielsweise – die schon den Besitz einer Bibel mit drakonischen Strafen belegen. Sie scheinen bewusst oder unterbewusst zu ahnen, welch ein Potenzial das Buch der Bücher in sich birgt. Wir können uns also gar nicht glücklich und dankbar genug schätzen, dass wir die Bibel heutzutage zum Preis eines McDonald´s-Menüs in jedem Buchladen oder im Internet erwerben können. Sie ist, vielmehr als Big Mac und Whopper, unser Lebenselixier, denn aus der biblischen Offenbarung wissen wir über Gott und den Weg des Heils, der zum ewigen Leben führt. Dennoch ist die Heilige Schrift nur eine Seite der Medaille in unserer Beziehung zu Gott. Durch die Bibel spricht Gott zu uns, und im Gottesdienst bzw. im häuslichen Gebet sprechen wir, auf umgekehrtem Wege, zu Gott. Das Eine ist mit dem Anderen untrennbar verbunden. Das Eine ohne das Andere ergäbe nämlich keine Zwiesprache, sondern einen Monolog. – Der langjährige russische Metropolit von Großbritannien und Irland Anthony (Bloom, + 2004) empfahl einst einer älteren Dame, die nach eigenem Bekunden ununterbrochen zu Gott betete, aber „keine Antwort erhielt“, doch einmal innezuhalten und „Gott zu Wort kommen zu lassen“. Möglich wäre das z.B. dadurch, dass man die Bibel aufschlägt und aufmerksam darin liest – read.
Im Westen unseres Kontinents gab es vor einem halben Jahrtausend eine innerkirchliche Auseinandersetzung auch aufgrund dessen, dass breite Teile der Bevölkerung die Bibel weder selbst lesen noch verstehen konnten, wenn aus ihr in der Kirche vorgelesen wurde. Selbiger Umstand führte dazu, dass die gebildete Oberschicht – bestehend fast ausschließlich aus Vertretern des Klerus und des Mönchtums – einen enormen manipulativen Einfluss auf die Volksmassen ausüben konnte. Dieses Machtmonopol begann in dem Moment zu bröckeln, als die Bibel in eine für jedermann verständliche Sprache übersetzt und noch dazu, dank des ersten Massenmediums der Geschichte, schnell verbreitet wurde. Jetzt konnte auch das Volk die Bibel aufmerksam lesen. Dies führte in der Folge dazu, dass die Quelle jeglicher Wahrheit und Rechtfertigung nun in individueller statt institutionalisierter Erscheinungsform sprudelte. „Sola Scriptura“ - so lautete die neue, alternative Devise. Jeder war jetzt berechtigt, die Heilige Schrift nach eigener Lesart zu deuten, und nicht so, wie es ihm die Amtskirche vorgab. Dieser Gegenentwurf zur „Kirche von oben“ löste aber heftige Gegenreaktionen seitens der damals noch nahezu allmächtigen Römischen Kirche aus, die zunächst in blutige Auseinandersetzungen und ein Jahrhundert später in einen dreißig Jahre währenden Konfessionskrieg mündeten. Im Kern ging es dabei – abgesehen vom immer vorherrschenden politischen Machtfaktor – um die Frage, wie die Bibel zu lesen und zu verstehen ist. Das damals unanfechtbare Lebenselixier konnte nun also aufmerksam, heute würden wir sagen – kritisch –, gelesen werden. Welch eine Macht das Wort Gottes, ungeachtet dessen, ob es sich im exklusiven oder im universellen Besitz befand, doch hatte!.. Nicht von ungefähr ist die Bibel seit der Erfindung des Buchdrucks bis zur heutigen Zeit das am meisten gedruckte, meistverkaufte und meistgelesene Buch der Welt. Doch schrumpft die Zahl derer, die das Lebenselixier quasi mit der Muttermilch bekommen und es danach aufmerksam lesen, rapide. Neue Denkmuster und -systeme beanspruchen längst nicht mehr bloß einen gleichberechtigten Platz im Wertekanon unserer Gesellschaft, sondern zielen darauf ab, ersatzlos an die Stelle der Bibel zu treten. Eine neue Anti-Reformation der Postmoderne mit dem Ziel, die Heilige Schrift aus den Köpfen und Herzen der Menschen herauszubekommen! Auch in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa nimmt diese Bewegung gerade mal dreißig Jahre nach dem Fall des atheistischen Totalitarismus wieder an Fahrt auf.
Im Osten unseres gemeinsamen Kontinents wurden in der Historie zwar ununterbrochen dogmatische und theologische Konflikte ausgefochten, weil die Mächte des Bösen nichts unversucht lassen, die Christen unter allen Umständen zu spalten, doch eine umfangreiche Grundsatzdebatte über die Heilige Schrift als solche hat dort niemals stattgefunden. Vom kulturellen Niveau und der zivilisatorischen Entwicklung her war Ostrom dem Abendland anfangs Jahrhunderte voraus, so dass das Christentum seine kulturelle Blüte und seinen Aufstieg zur Weltreligion fast ausschließlich der byzantinischen Kultur zu verdanken hat. Das Abendland gehörte im ersten Jahrtausend zwar dazu, stellte aber keineswegs den Mittelpunkt der christlichen Welt dar. Die Bevölkerung Roms betrug damals gerade mal ein Zehntel derjenigen von Konstantinopel, und entsprechend groß waren die Unterschiede beim Bildungsstand, in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Aber was nutzte das alles, wenn die Heilige Schrift zwar bekannt und verbreitet war, aber nicht aufmerksam gelesen wurde?! Als das gemeinsame Glaubenszeugnis, gegründet auf dem Fundament der Heiligen Schrift, schließlich nicht mehr oberstes Gut war und durch chauvinistische Tendenzen überlappt wurde, begann das tausendjährige Römische Reich christlicher Prägung langsam aber stetig unterzugehen. Statt über den gemeinsamen Glauben definierte man sich nun über die ethnische Identität (vgl. Gal. 3:28 und Kol. 3:11). Der Wegfall des inneren Zusammenhalts führte dazu, dass die äußeren Grenzen immer schwerer zu verteidigen waren und eine neue Religion im Osten immer neue Gebiete erobern konnte und die dortige Bevölkerung ihrem Machtbereich unterwerfen konnte. Nach dem gleichen Muster war zuvor schon das erste russische Reich, die Kiewer Rus´, durch innere Zerrissenheit untergegangen. Man hatte also nichts aus der Geschichte gelernt, was fatal ist zu allen Zeiten!
Auch in unserer heutigen Zeit sehen wir, wozu übertriebene nationale und kulturelle Identifikation mit der christlichen Konfession ohne das Fundament des lebendigen Glaubens führen kann: im Kernland der serbischen Orthodoxie, dem Kosovo, können die verbliebenen Reste der christlichen Kultur nur dank des Einsatzes von UN-Blauhelmen vor der totalen Zerstörung bewahrt werden, und in Berg-Karabach schützen nun russische Friedenstruppen die vor Brandschatzung und Schändung gerade noch geretteten armenischen Klöster und Kirchen vor dem Zugriff muslimischer Extremisten. Bei aller entschiedener Ablehnung jedweden religiösen Eifers müssen wir orthodoxe Christen heute zu unserer größten Schande anerkennen, dass die Muslime in der breiten Masse die „besseren Christen“ sind. Sie töten ihre Babys nicht im Mutterleib und entsorgen ihre Kinder nicht in Erziehungsheimen. Fünftausend Kinder werden pro Tag in Russland legal auf dem Altar von „Freiheit“ und „Menschenrechten“ geopfert. Aber auch das abendländische Christentum scheint sich von der biblischen Norm immer mehr zu verabschieden und dem liberalen Zeitgeist zu frönen. Ausgerechnet im reichen Westen werden mehr Kinder im Mutterleib getötet als zur Welt gebracht. Was ist das – unser Beitrag im Kampf gegen die Überbevölkerung der Erde?!.. Auch ich bin ein Verfechter der Freiheit (s. Jak. 1:25; 2:12; 1 Petr. 2:16; 2 Petr. 2:19; Röm. 8:21; 1 Kor. 8:9; 2 Kor. 3:17; Gal. 2:4,5:1,13), aber nicht einer grenzenlosen Freiheit um ihrer selbst willen. In der Tat sollte es z.B. heutzutage jeder Frau zustehen, eigenständig darüber zu entscheiden, ob sie schwanger werden will oder nicht. Ist die Entscheidung zugunsten der Schwangerschaft getroffen, darf diese aber nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dann manifestiert sich die Freiheit als (selbstgewählte) Verantwortung!.. Aber mit dem gesunden Menschenverstand treffen wir heute auf taube Ohren. Inzwischen gilt in unserer post-modernen Gesellschaft eine Familie schon als „asozial“, wenn in ihr mehr als zwei oder drei Kinder geboren werden, selbst wenn sie in stabilen und wohlbehüteten Verhältnissen aufwachsen! Eine nicht Kopftuch tragende Frau muss sich hierfür heutzutage schon vor der Gesellschaft rechtfertigen Soweit ist es also schon gekommen!.. Wenn hingegen eine Ehefrau und Mutter Mann und Kinder verlässt und fortan zusammen mit einer anderen Frau lebt, gilt dies inzwischen als „normal“, sogar als “fortschrittlich“... Ist das noch derselbe Planet, auf dem ich geboren wurde?..
Uns scheint der Boden unter den Füßen entglitten zu sein; wir Gläubige stehen nicht mehr auf dem Fundament des Glaubens!.. Und zu dieser bitteren Wahrheit gehört auch das Eingeständnis, dass es niemals soweit gekommen wäre, wenn wir uns schon beizeiten bemüht hätten, die Bibel aufmerksam zu lesen.
Aber Lesen allein ist nicht genug. Wenn schon die frommen Juden, für die das Gesetz und die Propheten ihr eigenes kulturelles Erbe darstellten, sich zu Zeiten unseres Herrn am Sabbat in Synagogen versammelten, um das Wort Gottes zu hören und darin von Schriftgelehrten unterwiesen zu werden, – um wie viel mehr bedarf es der moderne Mensch, der in einer anderen Zeit, in einem anderen Kulturkreis und noch dazu in einer völlig säkularisierten Umgebung aufwächst, in der Lektüre der Heiligen Schrift angeleitet zu werden?!..
Wir Orthodoxe erkennen die Bibel, ebenso wie die Christen des Abendlands, als höchste Autorität an. Liturgie, Dogmatik, Spiritualität und kanonisches Recht basieren auf der Heiligen Schrift. Der Tag beginnt liturgisch mit dem Abend (s. Gen. 1:5,8,13,19,23,31), unser Gottesdienst gründet durchweg auf biblischen Texten. Unsere Kirche ist biblisch! Unser Glaubensbekenntnis besteht aus Vokabeln, die mit Ausnahme des Terminus technicus „homousios“, allesamt der Bibel entliehen worden sind. Die heiligen Väter der Kirche befassten sich vornehmlich mit der Auslegung der Bibel, um diese für die Menschen ihrer jeweiligen Zeit und in deren Sprache verständlich zu machen. Aber die Heilige Schrift ist, im Unterschied zum Koran, den Propheten nicht direkt ins Ohr geflüstert worden. Sie besteht aus vielen Büchern (griech. biblia), verfasst zu verschiedenen Anlässen, in verschiedenen Epochen und an verschiedenen Orten. Sie hat aber ein einziges Motiv, ein einziges Ziel, einen einzigen Wesensinhalt: Jesus Christus – gekreuzigt und auferstanden nach der Schrift! Er legte den beiden Emmaus-Jüngern dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, „was in der gesamten Schrift über Ihn geschrieben steht“ (Lk. 24:27). Alles erfüllte sich, „was im Gesetz, den Propheten und den Psalmen“ über Ihn gesagt ist (Lk. 24:44). Aber begreifen konnten die Aposteln dies nur, nachdem „Er ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift“ geöffnet hatte (Lk. 24:45). Das Alte und, natürlich, das Neue Testament sind ein einziges Zeugnis von Jesus Christus! Ersteres ist die Präfiguration des Letzteren, Letzteres ist die Erfüllung des Ersteren. Doch nur wer ein vom Geist erfülltes Leben führt, kann im Bibelstudium verstehen, was in der Schrift geschrieben steht (s. 1 Kor. 2:6-16).
Vergessen wir nicht: über Jahrhunderte gab es keinen einheitlichen Bibelkanon. Es wurden kirchlicherseits viel mehr der damals kursierenden Schriften („Evangelien“, „Episteln“, „Offenbarungen“ etc.) verworfen als genuin als vom Heiligen Geist inspirierte Bücher (s. 2 Tim. 3:16) anerkannt. Die Aposteln empfingen das Evangelium zwar direkt von Jesus Christus, um es der gesamten Schöpfung zu verkündigen (s. Mk. 16:15), aber nicht als fertiges Buch, sondern als „Frohe Botschaft“, die sich in unserem Ostergruß zusammenfassen lässt: „Christus ist Auferstanden!“ Mit dieser Freudenbotschaft gingen sie in die Welt hinaus (s. Apg. 8:25; 14:21; 15:7; 20:24). Die Aposteln Petrus und Paulus sprechen zu einer Zeit vom „Evangelium“ (s. 1 Petr. 4:17 und 1 Kor. 9:14,18,23; 15:1; 2 Kor. 9:13; 11:7; Gal. 1:11), als noch keines der vier kanonischen Evangelien geschrieben war. Folglich gab es die Kirche auch schon ohne das (niedergeschriebene) Evangelium. Das Evangelium legt Zeugnis ab von der Kirche (s. Mt. 16:18). Wenn man heute das Evangelium (in Druckform) aus der Kirche „entwenden“ würde, könnte die Kirche auch weiterhin als „Säule und Fundament der Wahrheit“ (s. 1 Tim. 3:15) sowie als der vom Heiligen Geist beseelte und geleitete mystische Leib Christi (s. Apg. 20:28; Kol. 1:24) existieren. Umgekehrt aber wäre das Evangelium ohne die Kirche nicht denkbar. Wir glauben doch nicht an die in Buchstabenform verfassten Schriften, sondern an das Fleisch gewordene Wort Gottes – den ewigen Logos (s. Joh. 1:1-5,14). Dadurch sind wir der Brief Christi, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (2 Kor. 3:3). So wollten Generationen nicht schriftkundiger Christen „nichts wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten“ (1 Kor. 2:2). Somit dürfte klar sein, dass man ohne die lebendige Erfahrung der Kirche, d.h. die Anbetung Gottes „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4:23,24), die Bibel auch noch so aufmerksam lesen kann, ohne ihren eigentlichen Zweck zu erkennen. All die unverständlichen, teilweise grausamen Dinge, von denen im Alten Testament die Rede ist, können ohne die bewusst gemachte Hinführung zu Christus , „dem Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr. 12:2), wohl nur Ärgernis hervorrufen. Und gerade deshalb gibt es ja viel zu viele Menschen, die zwar viel wissen, aber nichts verstehen.
Das soeben Gesagte bedeutet jedoch keineswegs, dass man die Bibel heute nicht aus wissenschaftlicher Sicht aufmerksam lesen soll. Im Gegenteil. Durch die moderne Wissenschaft können sich aus etymologischer, archäologischer, geographischer, historiographischer usw. Perspektive immer weitere Horizonte auftun, da die zeitgenössische Bibelkunde über Mittel und Erkenntnisse verfügt, die den heiligen Vätern nicht zur Verfügung standen (so z.B. die 1947 entdeckten Qumran-Rollen). Deshalb: Objektive, ergebnisoffene Forschung – ja; tendenziöse „Recherchen“ im Stile von Bestseller-Romanen – nein!
Davon unbenommen bleiben der Pentateuch und die Bücher der Propheten uneingeschränkt das Wort Gottes. Das Evangelium stammt ohnehin nicht von Menschen (s. Gal. 1:11-12). Das im Alten Bund Beschriebene ist weder chaotisch noch sinnlos, denn seine Erfüllung ist das Evangelium – der Grund, auf dem wir stehen. Durch dieses Evangelium werden wir gerettet, wenn wir an seinem Wortlaut festhalten (s. 1 Kor. 15:1-2). Trotzdem ist in der (von Menschen verfassten) Heiligen Schrift nicht alles harmonisch, in allen Einzelteilen miteinander korrespondierend oder auf Anhieb einleuchtend. Von entscheidender Relevanz ist einzig und allein das übereinstimmende Zeugnis von der Wahrheit (s. Joh. 1:7,15; 5:33; 8:26; 18:37; 19:35; 21:24 u.v.m.). An diese Wahrheit glauben wir noch mehr, nachdem wir die Bibel aufmerksam gelesen haben. Aber was ist diese Wahrheit, an die wir glauben, denn eigentlich (vgl. Joh. 18:38)? – Nach aufmerksamem Lesen des Evangeliums stellt sich uns nicht die Frage, an was wir glauben, sondern an Wen wir glauben: an Jesus Christus - den „Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14:6). Amen.
Details Eintrag
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch