Predigt zum 25. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 4:1-6; Lk. 10:25-37) (29.11.2020)
Liebe Brüder und Schwestern,
ein Gesetzeslehrer, der unserem Herrn wohl schon oftmals zugehört und bestens von Dessen Lehre unterrichtet war, will Ihn auf die Probe stellen, indem er die folgende Frage an Ihn richtet: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Lk. 10:25). Als ihm der Herr die Gegenfrage stellt: „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“ (10:26), entgegnet dieser: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (10:27). Der Herr bestätigt die Richtigkeit dieser Antwort: „Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben“ (10:28).
In den Parallelstellen Mt. 22:34-40 und Mk. 12:28-34 ist es der Gesetzeslehrer, der die Frage nach dem wichtigsten Gebot stellt, und statt einem zwei Gebote als Antwort hört: das Gebot von der Liebe zu Gott und das von der Liebe zum Menschen, die Christus beide auf eine Stufe stellt. Gemäß der Version des Matthäus verfolgt der Fragesteller (ebenso wie hier bei Lukas) das Ziel, den Herrn auf die Probe zu stellen, während im Evangelium nach Markus keine bösartige Absicht bei ihm erkennbar ist. Nach Lukas, der die Reden des Herrn nicht nach der zeitlichen Abfolge wiedergibt, sondern eher nach einer inneren logischen Systematik gliedert, ist es ebenfalls der Gesetzeslehrer, der diese beiden obersten Gebote in einem zusammenfasst. Möglich ist auch, dass Er schon vorher von der Gleichstellung beider Gebote aus dem Munde des Herrn gehört hatte (wie bei Matthäus und Markus beschrieben) und nun wieder darauf zurückkommt. Als mutmaßlichem Angehörigen der nach dem Buchstaben des Gesetzes ausgerichteten Fraktion der Pharisäer musste es ihm höchst befremdlich vorgekommen sein, dass die Menschenliebe auf einer Stufe mit der Liebe zu Gott stehen soll. Die Pharisäer meinten ja, Gott durch ihre äußerlich praktizierte Gesetzestreue zu lieben (vgl. Lk. 18:11-12), – und jetzt sollen sie Menschen, womöglich noch dazu verhassten Fremden und verachteten Andersgläubigen die gleiche „Liebe“ entgegenbringen?!.. „Oder meint dieser Prediger vielleicht, dass das Gesetz unter deinem Nächsten den Gleichgesinnten, den Blutsverwandten oder Stammesbruder versteht?.. Da frage ich doch zur Klarheit besser noch einmal nach“, - mag der Schriftgelehrte gedacht haben. Das könnte jedenfalls erklären, warum der Gesetzeslehrer seine ursprüngliche Frage nach dem ewigen Leben „rechtfertigen“ wollte (s. Lk. 10:29).
Fakt ist: Wie heute, so wurde auch damals an der Heiligen Schrift herumgewerkelt. Es steht schwarz auf weiß im Gesetz davon, dass man seinen Nächsten lieben soll (s. Lev. 19:18), nicht aber davon, dass man seinen Feind hassen soll. Doch so dachten die Menschen damals (s. Mt. 5:43). Mehr noch: Im Neuen Bund sollen wir sogar unsere Feinde lieben (s. Mt. 5:44; Lk. 6:27)! Davon handelt das nun folgende Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Unser Herz erwärmt sich beim Gedanken an die eigene Kindheit, als wir das Gleichnis erstmals hörten und von der Mama oder der Großmutter erklärt bekamen – davon, dass man alle Menschen lieben soll. Und das hätte unsere Lebensmaxime für all die darauffolgenden Jahre werden sollen! Tja, hätte…
Der Herr verlangt ja nichts Übermenschliches von uns, auch wenn es auf den ersten Blick unmöglich scheint, seinen ärgsten Feind plötzlich zu lieben. Aber gerade aus dieser vermeintlichen Unmöglichkeit heraus bauen wir uns Feindbilder auf und ahmen, ohne es zu merken, die von sich selbst eingenommenen Pharisäer nach. Wir versuchen doch gar nicht erst, die zu segnen, die uns verfluchen oder für die zu beten, die uns misshandeln (s. Lk. 6:28). Wir wähnen uns auf der „richtigen Seite“, also sind wir die Guten. Basta!
Doch was wäre, wenn wir es wirklich ernsthaft versuchen würden, unsere Feinde zu lieben und für die zu beten, die uns verfolgen? – Es entstünden nur Vorteile und kein einziger Nachteil – für niemanden. Denn erstens würden wir unseren Seelen Frieden verschaffen, zweitens würden wir den direkt davon Betroffenen „Gutes“ tun (s, Lk. 6:27) und drittens würden wir Dritte durch unser persönliches Beispiel zu solch einer Herzenshaltung inspirieren. - Ja, auch von uns hängt es ab, ob diese Welt ein bisschen mehr dem Paradies ähnelt oder der Hölle! Wahrscheinlich können wir nicht die ganze Welt retten, aber wenigstens können wir das Menschenmögliche in unserer unmittelbaren Umgebung tun. Und wer weiß, welche Hilfe Gott uns dann gewähren wird?!.. Wir ahnen doch noch gar nicht, dass, wenn wir „mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt“ werden, Gott „durch die Macht, die in uns wirkt, unendlich mehr tun kann, als wir bitten oder uns ausdenken können“ (Eph. 3:19-20)!
Vorbilder haben wir mehr als genug. Hat nicht der heilige Seraphim gesagt: „Erlange einen friedlichen Geist und Tausende um dich herum werden gerettet werden“? Und der Apostel Paulus war bemüht “allen in allem entgegenzukommen“, denn er suchte nicht seinen Nutzen, „sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden“ (1 Kor. 10:33). All diese Heiligen waren „von der ganzen Fülle Gottes erfüllt“ und dienen uns heute als Vorbilder für die Nachfolge Christi (s. 1 Kor. 11:1). Auch von uns hängt das ewige Schicksal unseres Nächsten ab (s. Gal. 6:1-2). Stellen Sie sich vor, jeder würde entsprechend handeln – welchen Multiplikator-Effekt dies global hätte!… Wir alle brauchen Gebete auch füreinander. „Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind“ (Gal. 6:10). Kein Mensch ist nutzlos oder überflüssig, sondern jeder kann unendlich wertvoll sein! Er braucht dazu jetzt eigentlich nur noch sein Gebetbuch aufzuschlagen und sein Herz zu öffnen. Amen.
Details Eintrag
Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch