Predigt zum 2. Herrentag nach Ostern / Thomas-Sonntag / Antipascha (Apg. 5: 12-20; Joh. 22: 19-31) (05.05.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
nach der Lichten Woche tritt nun wieder der kirchliche Alltag ein, die Altartüren sind wieder verschlossen. Die Osterfreude bildet aber bis zur Himmelfahrt Christi den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens. In unserer aktuellen Betrachtung gedenken wir der zweiten Erscheinung unseres von den Toten auferstandenen Herrn vor den elf Jüngern, darunter auch dem Apostel Thomas, der bei der ersten Erscheinung Christi acht Tage zuvor nicht anwesend war.
Wenn wir uns in die Umstände dieser Erscheinung hinter abermals verschlossenen Türen (s. Joh. 20:26, vgl. 20:19) vergegenwärtigen, wird uns die Liebe Gottes zum Menschengeschlecht ein weiteres Mal offenbar. Der Herr hatte Seine Auferstehung vor Seinem lebensspendenden Leiden mehrmals direkt (s. Mt. 16:21; 17:9,23; Mk. 8:31; 9:9; 10:34; Lk. 9:22; 18:33) oder indirekt (s. Joh. 2:22) angekündigt, doch die Jünger konnten es schon da nicht glauben (s. Mk. 9:10; Lk. 24:25-27; Joh. 20:10) und auch dann zunächst nicht wahrhaben, als sie den Auferstandenen vor sich sahen (s. Mt. 28:17; 24:37-41) bzw. als sie von anderen die Kunde von der Auferstehung Christi empfangen hatten (s. Mk. 16:11,14). Doch stellvertretend für alle Zweifler und zum Glauben Unfähigen muss der Apostel Thomas herhalten, dessen Unglaube seither sprichwörtlich geworden ist. Eigentlich hätte unser Herr die Menschheit (mit Ausnahme Seiner allreinen Mutter) abschreiben müssen: von einem Seiner zwölf engsten Weggefährten für einen Sack Geld verraten, vom eigenen Volk, das Er Jahrhunderte lang auf Sein Kommen vorbereitet hatte, an die Heiden ausgeliefert, vom ersten Seiner Jünger dreimal verleugnet, von allen übrigen Jüngern verlassen und von allen, denen Er doch so viel Gutes getan hatte, vergessen. Schluss, aus! Oder?.. Nicht mit Christus. Er lässt Sich stattdessen von Seinen über alle Maßen erstaunten Jüngern betasten, damit sie endlich begreifen, dass sie kein Gespenst vor sich sehen (s. Lk.24:39-40; Joh. 20:27). Wahrlich: „Gnädig und barmherzig ist der Herr, langmütig und reich an Erbarmen“ (Ps. 102:8)! Er hatte ja zuvor die Feindesliebe als Maßstab der inneren Vervollkommnung des Menschen mit dem Ziel der Gottesähnlichkeit ausgegeben (s. Mt. 5:44-48; vgl. Röm. 12:14,20 bzw. Spr. 25:21-22), infolgedessen Er uns durch Seinen Tod mit Seinem Himmlischen Vater versöhnt hat, „als wir noch (Gottes) Feinde waren“ (Röm. 5:10; vgl. Kol. 1:21-22). Und das bedeutet, dass Gottes Liebe zu uns im wahrsten Sinne des Wortes bedingungslos ist! Als Er wegen unserer Sünden starb, ließ Er als „Dank“ dafür zahlreiche Tote auferstehen (s. Mt. 27:52-53)! Diese Liebe ist wahrhaft übermenschlich, und doch müssen wir Erdgeborenen ihr nacheifern (s. 1 Kor. 13), wenn wir den Namen Christi würdig tragen wollen: „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden“ (Mt. 5:46-47). Unser Maßstab ist Christus, nicht die (gefallene) menschliche Natur! Also müssen wir alle anderen ebenso lieben, ohne Gegenliebe zu erwarten. Die Messlatte liegt, zugegebenermaßen, hoch, aber unser Herr wird unser Bemühen anerkennen, wenn wir uns nach Seinem Vorbild bemühen, z.B. Untreue und Verrat zu vergeben und die zu lieben, welche unsere Liebe nicht erwidern. Und wenn wir darin erst einmal geübt sind (das Leben wird uns ganz gewiss einige dahingehende Lektionen erteilen!), werden wir auch denen Verzeihung gewähren können, die uns noch Schlimmeres antun (s. Apg. 7:60). Aus „menschlicher“ Sicht ist das unbegreiflich, widersinnig, sogar skandalös, doch aus der Perspektive des Evangeliums die einzige logische Vorgehensweise: wenn wir wollen, dass Gott uns unsere Sünden vergibt, müssen auch wir von ganzem Herzen denen vergeben, die uns Leid zufügen (s. Mt. 6:12,14-15; 18:23-35; Mk. 11:25; Lk. 11:4). Aber um dazu überhaupt fähig zu sein, genügt es nicht, von Natur aus ein gutes Herz zu haben; vielmehr bedarf es der einzig angebrachten Geisteshaltung vor Gott – der Demut. Wenn ich mich selbst nicht als elenden Sünder vor Gott sehe, der nichts als eine übergroße Menge an Sünden vor dem Herrn angehäuft hat (s. Mt. 18:24), wird auch meine Neigung entsprechend gering sein, meinem Nächsten seine mir gegenüber begangenen und im Vergleich zu meiner Schuld eher geringen Verfehlungen zu vergeben (s. Mt. 18:28-30). Und ganz nüchtern betrachtet sind – aus Sicht des Evangeliums – alle die Unfrieden zwischen uns bringenden Dinge (familiäre Zerwürfnisse, Liebesdramen, Vermögensstreitigkeiten, politische Konflikte etc.) lediglich lächerliche Kleinigkeiten im Vergleich zu der uns alle miteinander vereinenden Liebe Gottes. Es ist, so gesehen, eben dann eine Frage des Glaubens, ob ich meinem Nächsten (bzw. meinem Feind) seine wider mich gerichtete Bosheit um der Liebe Christi und des Himmelreichs willen vergeben kann. Und wir können sicher sein, dass uns solche Glaubensprüfungen herabgesandt werden, um uns für das Reich Gottes „fit“ zu machen. Und auch das ist dann eine Glaubensfrage, solche Prüfungen als von Gott zu unserem Heil gegeben anzusehen. Da reicht es mitunter nicht aus, bloß ein netter Zeitgenosse zu sein und „Gott in seinem Herzen zu tragen“. Für diese auf uns alle wartenden Herausforderungen bedarf es der vergöttlichenden Gnade in den Mysterien der Kirche, die wir schwache Menschen dank der überreichlichen Güte unseres Herrn empfangen dürfen. Und in diesem Sinne scheint es auch nur verständlich, dass die Aposteln zunächst an die Grenzen ihrer menschlichen Schwachheit stoßen mussten, bevor sie dann unerschrocken in die ganze Welt hinausgehen und allen Geschöpfen das Evangelium verkündigen konnten (s. Mk. 16:15). Amen.