Predigt zum vierten Herrentag der großen Fastenzeit / Gedächtnis der heiligen Maria von Ägypten (Hebr. 9:11-14; Gal. 3:23-29; Mk. 10:32-45; Lk. 7:36-50) (14.04.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
wer die zurückliegenden fünf Wochen richtig gefastet hat, müsste nunmehr ein stetiges Ansteigen der Freude am Fasten verspüren sowie bereits ein Anwachsen der Vorfreude auf die Große Woche und die Feier der Auferstehung. Aber Fasten, Buße, Selbstbezichtigung – kann dies überhaupt ein Quell der Freude sein?! Gebete mit zahlreichen Verbeugungen, stundenlange Gottesdienste, Verzicht auf vielerlei Genuss und Vergnügungen - das ist doch gerade das Gegenteil von dem, was sich der „normale“ Mensch als Freudenfaktor vorstellt. Dabei ist doch gerade die Askese das Wesensmerkmal der Religion schlechthin. Wenn mich die Erinnerung an meine Schulzeit nicht trügt, bedeutet lat. religio doch soviel wie fromme Scheu, Verbindung, Anbindung im Sinne von vollkommener Hingabe bzw. ehrfürchtiger Opferbereitschaft gegenüber dem Unsichtbaren. Und kennzeichnend für die heutige Zeit scheint zu sein, dass die Menschen tendenziell nicht zu einer rein atheistischen Denkweise neigen, sondern eher in einer vagen Beziehung zum Höheren eine Art Verbrauchermentalität an den Tag legen. Sie wollen nehmen, noch bevor sie etwas gegeben haben, ernten, wo sie nicht gesät haben. Unter abendländischen Christen ist eine Bewegung in Richtung nicht konfessionsgebundenem Neopaganismus mit Gott als Nebendarsteller verbreitet, im morgenländischen nebenkirchlichen Christentum ist dagegen eine skurrile Identifikation der traditionellen Glaubensformen mit nationalem Gedankengut zu beobachten. In beiden Fällen wird der Glaube von Christus als dem Erlöser entkoppelt bzw. für säkulare Zwecke instrumentalisiert. Deswegen lässt die orthodoxe Kirche nicht nach in ihrem Bemühen, die Gedanken und Herzen aller Menschen Christus, dem „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr. 12:2), zuzuwenden.
Zu Beginn der Fastenzeit gedachten wir feierlich des Triumphs der Orthodoxie über die Häresie. In den nachfolgenden Wochen wurden uns leuchtende Beispiele des wahren Glaubens angeboten – keine „Schreibtischhengste“, sondern Idealbilder für ein Leben nach dem rechten Glauben. Die Orthodoxie kann nicht bewiesen, dafür aber erwiesen werden („Православие не доказуется, а показуется“), lautet eine fromme Weisheit. Korrekt übersetzt bedeutet orthodox ja nicht rechtgläubig, sondern (Gott) recht verherrlichend. Gottes Ruhm steht an erster Stelle, nicht der menschliche. Die heiligen Gregorios Palamas, Johannes Klimakos und Maria von Ägypten sind zuvörderst für ein Leben in Christo verherrlicht worden, da sie sich in der Nachfolge Christi selbst verleugnet und ihr Kreuz auf sich genommen hatten. Äußerlich voneinander völlig verschieden – und doch eins im rechten Lobpreis des Herrn. Sie gaben Christus alles, entboten Ihm den Ruhm - und wurden dann ihrerseits von Ihm verherrlicht (s. 1 Petr. 4:11 bzw. Röm. 8:17,30). Der heilige Theodoros Tyron gab sein irdisches Leben, um das himmlische zu gewinnen. Das, was früher ein Gewinn für sie alle gewesen sein mag, haben sie durch ihr Leben (bzw. den Tod) um Christi willen als Verlust erkannt. Alles sahen sie als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, ihres Herrn, für sie alles übertraf. Seinetwegen haben sie alles aufgegeben und hielten es für Unrat, um Christus zu gewinnen und um in Ihm zu sein (s. Phil.3:7-9). Das ist gelebte Orthodoxie!
Erster Meilenstein unseres gemeinsamen Weges war der Triumph der Orthodoxie. Am Beispiel des Bilderstreits lässt sich der Unterschied zwischen dem wahren Glauben und der Irrlehre am vortrefflichsten dokumentieren. Im theoretischen, wissenschaftlichen Sinne lässt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens, wie bereits erwähnt, nicht belegen. Aber gerade am Beispiel einer Ikone wird die Trennlinie zwischen der säkularen und der spirituellen Herangehensweise am besten verdeutlicht. Ein ungläubiger Räsoneur wird eine Ikone als Stück Holz betrachten, und aus wissenschaftlicher Perspektive ist sie das auch; bestenfalls wird er sie als Kunstwerk oder, wenn sie schon mehrere hundert Jahre alt ist, als Kulturobjekt titulieren, für das man auf einer Auktion in London oder New York Millionen Dollar bekommen kann. Doch im Prinzip ist es nur ein Stück Holz, wenn auch ein schönes und kunstvolles - und vom rationalen Standpunkt hat er recht. Jetzt aber betrachten wir die Ikone vom Standpunkt eines orthodoxen Christen – egal, ob von dem eines Theologen oder einer einfachen Babuschka. Was erkennen wir? Diese Ikone wurde seinerzeit höchstwahrscheinlich von einem frommen Mönch, dessen Name heute auf Erden kein Mensch kennt, gemalt (oder, wie wir sagen – geschrieben). Dieser Mönch hat durch Gebet und Fasten die Leidenschaften besiegt (vgl. Mt. 7:21; Mk. 9:29; Lk. 2:37), wurde selbst zum Tempel des Heiligen Geistes (s. 1 Kor. 6:19). Durch die Reinheit des Herzens wurde er der Schau Gottes gewürdigt (griech. theoria, s. Mt. 5:8) und folglich hatte dieser Mönch eine lebendige Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott. Er war aber dennoch kein genialer Künstler, kein Michelangelo, dafür aber ein Heiliger. Er malte die Ikone nicht zur Selbstverwirklichung oder aus Geltungsdrang, auch nicht in Erfüllung eines lukrativen Auftrags, sondern einzig und allein aus monastischem Gehorsam. Sein eigener Wille tendierte hierbei gegen Null. Während des Malens betete er ständig, war erfüllt von der Liebe Christi und beseelt von der Gnade des Heiligen Geistes. Schließlich wurde die Ikone feierlich von einem Priester geweiht. Inzwischen haben Tausende vor selbiger voller Inbrunst gebetet, zahlreiche verbriefte Wunder haben sich ereignet und ebenso viele heute im historischen Gedächtnis nicht mehr erhalten gebliebene Wundertaten hat Gott durch diese Ikone gewirkt. Bis heute wird jeden Tag in der Kirche (oder zu Hause bzw. in der Mönchszelle) vor dieser Ikone gebetet. Jeder, der es nur will, kann bezeugen, dass im demütigen, aufmerksamen und aus reinem Herzen kommenden Gebet die Anwesenheit Dessen, zu Dem gebetet wird, eine mit den geistlichen Sinnen wahrnehmbare Realität ist. Es ist die Erfahrung, die jeder aufrichtig Glaubende und Betende im Herzen macht. Sie vereint uns miteinander im Glauben. Und das ist kein Hirngespinst, keine weit hergeholte Phantasterei, auch keine widernatürliche okkulte Praxis, sondern etwas, das auf geradezu vollkommene Weise in der menschlichen Natur verankert ist: ein kleines Kind, das auf den Armen seiner Mutter zu der Ikone hochgehoben wird, begreift mit dem Herzen, dass es den lieben Gott (in menschlicher Gestalt) oder Seine Mutter küsst – nicht ein Stück Holz. Doch Prof. Dr. Dr. phil. rer. nat. Unglaube kann darüber nur den Kopf schütteln (s. Mt. 11:25; Lk. 10:21).
Doch selbst diese herrliche Erfahrung der realen Anwesenheit Gottes, der Gottesgebärerin oder der Heiligen in einer Ikone ist nur ein Abglanz des größten Wunders, das wir in unsere Kirche buchstäblich in Händen halten dürfen – der Heiligen Eucharistie. Für den gelehrten Skeptiker sind es – na klar – nur Brot und Wein. Aber unser aller Erfahrung, die Erfahrung aller vorangegangener Generationen seit dem Heiligen Abendmahl im Obergemach auf dem Berg Zion, ja, die Erfahrung von Kindern und Greisen bekennt sich mit den Worten des heiligen Johannes Chrysostomos zu der alles überragenden Wahrheit: „Ich glaube, Herr, und bekenne, … dass dieses Dein allerreinster Leib selbst ist, und dass dieses Dein kostbares Blut selbst ist“. Durch diese Jahrtausende alte gemeinsame Erfahrung, durch dieses gemeinsame Zeugnis haben wir die Teilhabe am Leib und am Blut Christi (s. 1 Kor. 10:16) und verkünden gemeinsam den Tod des Herrn (1 Kor. 11:26). Dadurch werden wir alle zu lebendigen Steinen beim Aufbau des geistlichen Hauses, „zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen“ (1 Petr, 2:5). Also sind wir nicht eine graue Masse, sondern Gottes „auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das Sein besonderes Eigentum wurde, damit wir die großen Taten Dessen verkünden, Der uns aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht berufen hat“ (1 Petr. 2:9). Wann erkennen die Christen endlich, wozu sie doch von Anfang an berufen worden sind (vgl. Mt. 22:14)?!.. Doch dazu müsste ihre Geisteshaltung dem Evangelium und dem geistigen Erfahrungsschatz der Kirche angepasst werden, anstatt aus Bequemlichkeit der gerade aktuellen gesellschaftspolitischen Denkweise vorbehaltlos beizupflichten.
Vor allem aber innerhalb der Herde Christi muss immer wieder von neuem eine Trennlinie zwischen fleischlichem Denken und dem Leben nach dem Geist gezogen werden, denn nur die, „die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes“ (Röm. 8:14). Das am besten geeignete Hilfsmittel zur Gewährleistung der Führung durch den Geist Gottes ist das Fasten. Allerdings ist Fasten – ebenso wie alle Werke des Glaubens – nur dann Gottes Werk, wenn es im Einklang mit der stets gemeinsamen Erfahrung (= Paradosis, Tradition, Предание) der Kirche des lebendigen Gottes geschieht. Sie ist nämlich „die Säule und das Fundament der Wahrheit“ (1 Tim. 3:15). Amen.