“Im wahren Fasten lasset uns dem Herrn fasten...”

Liebe Brüder und Schwestern!
Wir beginnen die große und heilbringende Fastenzeit und gedenken, daß das Fasten das älteste Gebot ist und gleichzeitig das neueste, denn das Fasten erneuert uns. Das Fasten erneuert unsere wahre Menschlichkeit, denn es führt uns zu Gott und erneuert uns deshalb in unserer Gott-Menschlichkeit.
Im Altertum vor Christus fasteten die Propheten. Christus Selbst fastete, es fasteten auch Seine Jünger. Und alle wußten das, was auch wir nun bedenken sollten, daß Fasten nicht nur die Zeit der Enthaltsamkeit im Essen ist, sondern, daß Fasten auf die Natur des Menschen gerichtet ist. Nach unserem gottweisen Vater Justin ist das Fasten eine gottmenschliche Tugend, ein gottmenschliches Askesewerk. Wie in einer jeden gottmenschlichen Tugend führt Gott im Fasten, und der Mensch wird geführt. Die Grundlage des Fastens ist ein umkehrendes Denken, eine bußfertige Demut. Aber wir wissen alle aus der Erfahrung, wie leicht man diese Einstellung, diese wirkliche Bedeutung des Fastens verfehlen kann. Mit einem äußerlichen und leeren Fasten, mit einem Fasten, das gemischt ist mit Selbstverherrlichung, macht sich der Mensch zu einem geistigen Krüppel und verletzt seine gott-abbildhafte Seele.
Am gottmenschlichen Fasten, das dem Evangelium entspricht, nimmt der gesamte Mensch teil: Der Körper fastet und die Seele fastet. Der Körper enthält sich des Essens gemäß der Weisungen der Kirche, und die Seele enthält sich der Sünde. Der Körper enthält sich vom Essen, die Seele fastet von der Sünde. Es fastet der Geist, es fastet auch das Herz, wenn wir aufrichtig, in rechter Weise fasten. Der Geist fastet, indem er sich der bösen Gedanken enthält, der negativen Vorstellungen, die oft gegen unseren Willen in uns aufsteigen, der sündenliebenden Gedanken. Das Herz fastet, indem es sich enthält von den sündigen Gefühlen, von den Leidenschaften, die seelenverderblich sind, und von bösen Wünschen. Das Fasten ist eine Überprüfung der menschlichen Treue zum wahren und getreuen Gott. Schon im Paradies hat der Mensch Gaben erhalten, aber nicht nach seinem Verdienst. Der Mensch muß sich in seinem freien Willen selbst  auf diese Gaben hin bestimmen und durch sie auf den Herrn, den Geber der Gaben. Durch das Gebot des Fastens hat der Herr dem Menschen offenbart, wie er zu seinem Schöpfer zu stehen hat, und dann auch zu seinem Nächsten und zur ganzen Schöpfung. Von dieser Beziehung des Menschen zu Gott und zur Schöpfung hängt ab, ob er den wahren Sinn seines menschlichen Daseins verwirklichen wird, ob er ein wahrer Mensch wird, so wie ihn Gott geschaffen hat, ob er das erreicht, was der Herr ihm bestimmt und ihm in das “Buch seiner Natur” geschrieben hat. Es geht nicht nur darum, daß der Mensch im Einklang mit dem Bilde Gottes, nach dem er geschaffen ist, lebe, sondern auch darum, daß er durch das Fasten nach dem Bilde Gottes lebe: Er soll sich Gott angleichen und Gott Selbst in sich aufnehmen und nicht nur die Gaben Gottes.
Aus der Heiligen Schrift wissen wir, daß Adam, kaum hatte er das Gebot übertreten, so war auch die Beziehung zu Gott zerstört. Er hat das Zeitliche, das Vergängliche dem ewigen Gott und Seinem unvergänglichen Wort vorgezogen. Dadurch hat der Mensch das Gebot des Gehorsams gebrochen. Ein Mensch, der nicht hört, dem Wort Gottes nicht folgt, kann nicht im Gehorsam zu Gott stehen, er kann nicht in Frieden mit sich selbst und seinen Nächsten leben, denn er hört nicht auf Gott, er hört nicht einmal auf sich selbst und seinen  Nächsten. Indem er sich von der lebendigen Gemeinschaft mit Gott löste, entfernte sich der Mensch von seinem Schöpfer und ist abgesunken in das Materielle, in das Verwesliche und Vergängliche. In seinem Herzen hat er Gott getötet, daher ist es nicht erstaunlich, daß bereits unter den ersten Brüdern der Brudermord keimte.
Der Wille, zu Gott zurückzukehren, ist von jeher verbunden mit einer Läuterung des Herzens durch Gebet und einer Reinigung des Leibes durch Fasten. Auf diesem Weg der doppelten Reinigung erreicht der Mensch die wahre Gotteserkenntnis. Gott wohnt ihm dann inne und er erkennt Ihn. Wir wissen, daß Moses nach vierzig Tagen Fasten der Gottesschau gewürdigt wurde. Indem der Mensch sich von seinem Willen lossagt, nimmt er das Kreuz auf sich und durch das Kreuz die Auferstehung.
Eine der Formen des Kreuzes, liebe Brüder und Schwestern, ist das, was am Abendgottesdienst in der Butterentsagungswoche stattfindet, wenn in unserer Kirche der alte Ritus der gegenseitigen Vergebung begangen wird. Wie oft wiederholen wir die Worte des Vaterunsers und merken dabei gar nicht, daß es mit den Worten endet: “und vergib uns unsere Sünden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.” Durch die Vergebung wird der Mensch gottähnlich. Ohne darauf zu achten, wer schuldig ist, denn wir alle sind schuldig vor Gott, bitten wir um Vergebung füreinander. Wir wissen, daß unter uns Ärger, Verurteilung und Streit aufkommen kann, aber wir wissen auch, daß bei jedem Wortwechsel zumindest zwei teilhaben, und beide tragen Verantwortung vor Gott und beide sündigen. Vergebung, das ist das Fasten von der Sünde der Verurteilung. Es ist der Beginn unserer Rückkehr zu Gott, unserer Rückkehr in die Umarmung des Vaters. Durch Fasten und Vergebung öffnen sich uns die Türen der Umkehr.
Die Auferstehung Christi, die auf das Kreuz folgt, ist der Angelpunkt unseres Lebens, die Achse des Weltalls, aller Welten, der sichtbaren wie der unsichtbaren. Diese Auferstehung aber richtig zu erfühlen und zu erleben, als eine Auferstehung der Seele, können nur diejenigen, die in der Seele wiedererstanden sind. Die Reue gebiert den Menschen durch Fasten und Gebet wieder. Und die erstgeborenen und durch Reue wiedergeborenen Menschen schauen sowohl das Kreuz als auch die Auferstehung. Amen.

Mark,
Erzbischof von Berlin und Deutschland

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