Das letzte Gericht über Gott (Predigt zum Karfreitag) Aus dem Buch “Filozofske Urvine” (“Philosophische Abgründe”), München 1957, S. 101-108 (Mt 27, 1-44; Lk , 23, 39-43; Mt , 27, 45-54; Joh , 19, 31-37; Mt , 27, 55-61)
Niemals war weniger von Gott im Menschen, liebe Brüder, als heute. Heute verkörpert sich der Teufel im Menschen, um den Gottmenschen zu entkörpern. Heute nimmt alles Böse seine Wohnung im Fleische des Menschen, um Gott aus dem Fleische zu vertreiben. Heute zieht die ganze Hölle auf die Erde. Erinnert sich wirklich niemand mehr, daß die Erde einst das Paradies war? Der heutige Fall des Menschen ist unvergleichlich schwerer als der erste Fall; damals fiel der Mensch von Gott ab, aber heute kreuzigt er Gott, tötet er Gott. Oh Mensch, was ist dein Name, wenn nicht Diabolus? Aber was reden wir da? Das wäre ja eine Diffamierung des Teufels. Der Teufel war nie so böse, so artistisch böse wie der Mensch. Der Herr Christus stieg sogar in die Hölle hinab, aber dort kreuzigten sie Ihn nicht. Aber wir kreuzigten Ihn! Sind die Menschen etwa nicht schlimmer als der Diabolus; ist die Erde nicht höllischer als die Höllenglut? Aus der Hölle haben sie Christus nicht verjagt; aber die Menschen vertreiben Ihn heute von der Erde, vertreiben Ihn aus ihrem Fleische, ihrer Seele, ihrer Stadt...
In meine Seele, Brüder hat sich wie eine Schlange eine böse Frage eingeschlichen, und hämisch versucht sie mich: War denn der Mensch überhaupt jemals gut, wenn er Christus kreuzigen konnte?
Du glaubst an den Menschen, du glorifizierst ihn, du bist ein Optimist? Oh, schaue nur auf den Menschen, schaue auf die Menschheit vom Scheitelpunkt des Karfreitags aus, schaue auf den Menschen, der den Gottmenschen getötet hat und sprich: Bist du immer noch ein Optimist? Schämst du dich nicht dessen, daß du ein Mensch bist? Siehst du nicht, daß der Mensch schlechter als der Diabolus ist?
Vergeßt alle Tage bis zum und alle Tage nach dem Karfreitag, beschränkt den Menschen auf den Rahmen des Karfreitags – ist er dann nicht das Zentrum alles Bösen, die Arena aller Versuchungen, das Arsenal aller Gemeinheiten? Wurde heute nicht die Erde irrsinning durch den Menschen? Bewies nicht der Mensch, der den Gottmenschen tötete, heute, daß er wahrhaftig der Wahnsinn der Erde ist?
Sogar das Weltgericht, Bruder, wird nicht schrecklicher als der Karfreitag sein. Nein, es wird zweifellos weniger schrecklich sein, denn dann wird Gott den Menschen richten, aber heute richtet der Mensch Gott. Heute ist das Weltgericht über Gott: Die Menschheit richtet Ihn. Heute schätzt der Mensch Gott ein: Er taxiert Ihn auf dreißig Silberlinge. Christus – auf dreißig Silberlinge. Sollte das wirklich der letzte Preis sein? Ist Judas wirklich unser letztes Wort über Christus?
Heute verurteilte die Menschheit Gott zum Tode. Das ist die größte Revolte in der Geschichte von Himmel und Erde. Das ist die größte Sünde in der Geschichte von Himmel und Erde. Solch eine Empörung verursachten nicht einmal die gefallenen Engel. Heute findet das Weltgericht über Gott statt. Niemals sah die Welt einen unschuldigeren Verurteilten und einen irrsinnigeren Richter. Niemals wurde Gott schrecklicher verlacht. Die grinsende Hölle zog heute in den Menschen ein und verlachte Gott und alles Göttliche. Ausgelacht wurde heute jener, der niemals lachte. Es heißt, daß der Herr Jesus niemals lachte, aber oft sah man Ihn weinen. Entehrt ist heute jener, der uns zu verherrlichen kam: Wir peinigen heute den, der kam, um uns von der Pein zu erlösen; dem Tode überliefert wird heute jener, der das ewige Leben brachte. Oh Mensch, gibt es eine Grenze für deinen Wahnsinn? Gibt es einen Aufhalt für deinen Fall?
Das Kreuz, das Schmachvollste, gaben wir jenem, der uns ewigen Ruhm schenkte. Dich, den Aussätzigen, reinigte Er vom Aussatz, willst du Ihm etwa dafür das Kreuz geben? Dir, dem Blinden, öffnete Er dir die Augen: Etwa deshalb, um das Kreuz und Ihn darauf gekreuzigt zu sehen? Ein Toter warst du, und Er erweckte dich aus dem Sarg: Etwa deshalb, daß du Ihn in sein Grab hineinjagtest? Durch frohe Kunde versüßte der süßeste Jesus das bittere Los unseres Lebens, Bruder: Für welche frohe Kunde zahlen wir Ihm mit solcher Bitternis heim?
“Meine Leute, was habe Ich euch nicht alles getan? Habe Ich nicht Judäa mit Wundern erfüllt? Habe Ich nicht einen Toten mit einem Wort auferweckt? Habe Ich nicht jede Krankheit und jede Not geheilt? Was gebt ihr mir? Für die Heilung fügt ihr mir Wunden zu; für das Leben tötet ihr mich und schlagt mich ans Kreuz”...
Der Karfreitag ist unsere Schande, Bruder, unsere Schmach und Blamage. In Judas Iskariot war ein wenig von jeder menschlichen Seele. Wenn dem nicht so wäre, wären wir ohne Sünde. Durch Judas fielen wir alle; wir alle verkauften Christus; wir alle verrieten Christus, und den Diabolus nahmen wir auf und den Satan hätschelten wir. Ja, den Satan. Denn in dem heiligen Evangelium heißt es: Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Nach welchem Bissen? Nach dem Bissen Brot, welchen ihm Christus gab; nach dem Abendmahl, nach Christus. Ach, gibt es einen größeren Fall, etwas Fürchterlicheres? Habgier, du hast den Herrn Christus verraten! Geldgier, du verrätst Ihn auch heute noch. Den Judas, der ein Jünger Christi war, der bei allen Wundern Christi zugegen war, der im Namen Jesu die Aussätzigen reinigte, die Kranken heilte, die Toten auferweckte, die unreinen Geister austrieb, diesen Judas machte die Gewinngier zu einem Verräter und Christusmörder – wie sollte sie da dich und mich nicht zu Verrätern und Christusmördern machen, die wir nicht drei Jahre lang Gott im Fleische sahen, die wir nicht Aussätzige reinigten, die wir nicht die Kranken heilten, nicht die Toten im Namen Jesu auferweckten? Judas war lange bei demjenigen, der keinen Ort hatte, Sein Haupt hinzulegen, der durch Wort und Tat lehrte, kein Silber kein Gold bei sich zu tragen. Aber ich? Aber du? Du kannst nicht über die Armut frohlocken, Bruder, du kannst dich nicht in das Elend schicken – wisse, daß du ein Anwärter auf Judasschaft bist. Frage nicht: Etwa ich, Herr? Denn ohne Zweifel wirst du die Antwort hören: Ja, du hast es gesagt. Begehrst du den Reichtum, wächst in dir der Durst auf Geld, so wisse, daß du in dir Judas gebierst. Bruder und Freund, bedenke dein ganzes Leben lang: Die Habgier kreuzigte Christus, tötete Gott, die Habgier machte aus dem Jünger Christi einen Feind Christi, einen Mörder Christi. Aber nicht nur dies: Sie vernichtete auch noch Judas selber. Die Habgier hat die verdammte Eigenschaft, daß sie den Menschen nicht nur zu einem Christusmörder, sondern auch noch zu einem Selbstmörder macht. Sie tötet zuerst Gott in der menschlichen Seele und danach auch noch den Menschen selber. Der Tod ist ein schreckliches Geheimnis Bruder, aber noch schrecklicher ist es, wenn die Menschen Gott dem Tode überliefern und Ihn total vernichten wollen, gänzlich ausrotten, damit Er absolut tot sei, nichts von ihm übrigbleibe. Heute ist ein Tag, an dem die Menschen schrecklicher als Gott sind, denn sie peinigen Gott so sehr, wie Er niemals irgend jemanden peinigte; denn sie bespeien Gott, wie Er niemals jemanden bespeite; sie schlagen Gott, wie Er niemals irgend jemanden schlug. Es verstumme jeder, der sich Mensch nennt! Es möge jedes menschliche Fleisch schweigen! Es möge sich keiner als Mensch protzen, es möge sich keiner seines Menschseins rühmen, denn siehe: Die Menschheit duldet nicht Gott in ihrer Mitte, sie tötet Gott. Kann man denn auf solch eine Menschheit stolz sein? Es möge sich keiner des Humanismus rühmen! Ach, das ist alles nur Satanimus, Satanismus, Satanismus...
Heute flochten nicht die Teufel, nicht die wilden Tiere, nicht die Schakale, sondern die Menschen eine Dornenkrone und setzten sie auf das Haupt Christi. Mit einer Dornenkrone krönten sie jenen, der den Menschen mit Unsterblichkeit schmückte. Die Dornenkrone flicht die Menschheit um das Haupt jenes, der einen Kranz aus Sternen um die Erde flocht! Die Dornenkrone für Christus flechten auch du und ich, mein Freund, wenn wir das Geld lieben, wenn wir Unzucht üben, wenn wir Gott lästern, wenn wir verleumden, wenn wir trinken, wenn wir unbarmherzig sind und erzürnen, wenn wir sündige Gedanken hegen, wenn wir unreine Gefühle haben, wenn wir keinen Glauben pflegen, wenn wir keine Liebe haben. Jede meiner Sünden, jede unserer Sünden ist ein Dorn, den wir der Dornenkrone zufügen, welche die von Sinnen gekommene Menschheit unaufhörlich um das Haupt des Herrn Jesus flicht. In der Peinigung Gottes erwies sich der Mensch als erbarmungsloser als der Teufel selber. Ihr wollt es nicht glauben? Hört, was ein Augenzeuge erzählt: Als sie Ihm ins Antlitz spieen – ach in Sein Antlitz, Sein wunderbares und zauberhaftes Antlitz... Herr, warum hast du da nicht ihre Lippen mit Aussatz geschlagen und ihr Münder in Wunden verwandelt? Etwa deshalb, um uns Geduld und Sanftmut zu lehren? Sie spuckten auf dieses wunderbare, dieses edle Angesicht, das kostbarer als alle Gestirne, als alle Seligkeiten ist. Was sagen wir da? Ja, mehr als alle Seligkeiten, denn in diesem sanftmütigen Antlitz ist die Fülle der ewigen Seligkeit, die ganze Fülle der ewigen Freude. Sie spieen auf dieses lichtvolle Angesicht, vor dem das Meer sich besänftigte und stille wurde; auf dieses Angesicht, welches die umstürmten Seelen beschwichtigte und ihnen Ruhe schenkte. Und ihr rühmt euch des Menschen? Ach, rollt doch eure Banner ein, ihr erbärmlichen Würmer! Niemand anderes sollte sich so schämen wie der Mensch, keiner der Dämonen, keines der wilden Tiere, keines der Lebewesen... Die Menschen bespeien Gott – gibt es etwas Schrecklicheres als dies? Die Menschen schlagen Gott – gibt es etwas Satanischeres als dies? Bruder, wenn die Hölle nicht wäre, da müßte man sie erfinden für die Menschen, allein für die Menschen... Ihn, den Schöpfer und Gott, bespieen und schlugen sie, aber Er ertrug alles sanftmütig und schweigend. Hast du eine Rechtfertigung, der du auf jede Kränkung mit einer Kränkung antwortest? Auf alles Böse – mit Bösem? Du verfluchst, wenn man dich verflucht und du haßt, wenn man dich haßt? Indem du Böses mit Bösem vergiltst, bespeist du den Herrn Christus, indem du jene haßt, die dich hassen, schlägst und quälst du Christus, indem du einer Beleidigung mit einer Beleidigung entgegnest, schändest du den Herrn Jesus, denn Er tat so etwas niemals.
Den sanften Herrn übergibt Pilatus der Kreuzigung. Und die Menschen führen Ihn von Strapaze zu Strapaze, von Pein zu Pein, von Verhöhnung zu Verhöhnung. Den geschmähten Gott kreuzigen sie, schlagen Ihn ans Kreuz.. Vergeßt Ihr etwa schon die Nägel in den Händen Christi, in jenen Händen, die so viele Kranke heilten? So viele Aussätzige reinmachten? So viele Tote auferweckten? Schweigen nun tatsächlich die Lippen, welche so sprachen, wie ein Mensch niemals sprach? Jairus wo bist du? Lazarus wo bist du? Witwe von Naim, wo bist du, um deinen und meinen Herrn zu verteidigen? Kreuzigt ihr Ihn denn wirklich, die Hoffnung der Hoffnungslosen, den Trost der Trostlosen, das Auge der Blinden, das Ohr der Tauben, die Auferstehung der Toten? Schlagt ihr wirklich Nägel in diese heiligen Füße, welche Frieden brachten, welche die frohe Botschaft verkündeten, welche über das Meer wie über Festland wandelten, welche zu allen Kranken eilten? Zu dem toten Lazarus? Zu dem Besessenen von Gadara?
Sie kreuzigen Gott. Seid ihr zufrieden, ihr Gotteslästerer, seid ihr nun ruhig, ihr Gottesmörder? Was haltet ihr von Christus am Kreuze? Ein Betrüger, ein Schwächling, ihr versucht Ihn: Wenn du der Sohn Gottes bist, so steige vom Kreuze herab! Ach du, welcher du den Tempel in drei Tagen errichten willst, hilf dir doch selber und steige vom Kreuze herab!
Und was denkt der Herr vom Kreuz aus über die Menschen unter dem Kreuz? Das, was nur der Gott der Liebe und Sanftmut denken kann: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Wahrhaftig wissen sie nicht, was sie da mit Gott in menschlicher Gestalt tun. War es dem Herrn etwa leichter im Leibe als am Kreuze? Schwerer glaubt mir, als wenn in jeder Pore meines Körpers ein halbes Teufelchen säße. Denn unendlich mehr Unterschied ist zwischen Gott und dem Menschen, als zwischen dem Teufel und dem Menschen – zwischen dem Tod und Gott, als zwischen dem Tod und dem Menschen. Der Erlöser fühlte diesen Schmerz: Sein reines, sündloses Wesen stand gegen den Tod auf, und Er, der den Tod vor sich sah, bangte und betrübte sich: Meine Seele ist zu Tode betrübt! Wenn schon Gott niedergeschlagen ist, wenn schon Gott vor dem Tode bangt, dann sprecht, gibt es für den Menschen irgend etwas Schrecklicheres als den Tod? Etwas Unnatürlicheres als den Tod? Etwas Garstigeres als den Tod? Der Tod ist schwer für Gott, um wieviel schwerer ist er da für den Menschen? Der Tod ist für den Menschen schwerer als alles, denn er stellt die größte Entferntheit des Menschen von Gott dar. Der Mensch in Christus empfand dies und bekannte mit Wehmut: Mein Gott, Mein Gott, warum hast du Mich verlassen? Das schrie der eingeborene Sohn Gottes, der mit dem Vater einwesentlich, ein Ganzes mit dem Vater ist. Ist dies nicht der allerbeste Beweis dafür, daß der Tod eine Kraft ist, die von Gott absondert, die von Gott entfernt, die von Gott trennt? Sie kreuzigten Gott. Mensch, was willst du noch weiter? Wäre der reuige Schächer nicht gewesen, so gäbe es für dich keine Rechtfertigung. Wäre er nicht gewesen, so wäre die Erde für immer eine Hölle. Als alle Jünger an Christus irre wurden, da bekannte Ihn der Schächer als den Herrn und König: Gedenke meiner, Herr, wenn du in Dein Königreich kommst! Der Schächer – das ist unsere Hoffnung, denn er glaubte damals an Christus als Gott, als alle den Glauben an Ihn verloren hatten, denn er glaubte an Jesus als den Herrn, als Er bescholten, verlacht, gepeinigt wurde, als Er als einfacher Mensch schrecklich litt und gemartert wurde. Zu der Zeit jedoch als die Menschen Gott bespieen, als die Menschen Gott kreuzigten, da protestierte die ganze Natur: Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde aber schrie Jesus laut auf: Und siehe der Vorhang im Tempel zerriß von oben bis unten in zwei Stücke; und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen; und die Grüfte öffneten sich; und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt.
Als die Leute ihre Komödie mit Gott zu Ende getrieben hatten und verstummten, da fing das Weltall an zu sprechen, da fingen die Steine an zu sprechen und zeigten sich mitfühlender als die Menschen, sie nahmen Anteil am Schmerz Christi. Sogar die Sonne sprach: Unsere schreckliche Himmelsleuchte verdunkelte ihr Licht. Das Licht schämte sich dessen, worüber sich die Menschen freuten. Die Toten in den Gräbern hörten das Stöhnen Christi und erwachten, sie kamen eilend aus den Gräbern hervor, während die Lebenden unter dem Kreuze standen, die tote Seelen in ihren Leibern bargen. Heute zerriß der Tempelvorhang zur Entlarvung der Gesetzesübertreter und die Sonne verdunkelte ihr Angesicht, als sie auf den gekreuzigten Herrn schaute. Alles litt mit dem, der alles geschaffen hat, ja alles und alle fühlten mit dem gekreuzigten Herrn, alles und alle, außer dem Menschen, außer den Leuten. Alles Geschöpf erkannte sogar am Kreuze Gott in Christus und bekannte Ihn als Gott. Und vom Kreuze zeigte sich Christus als Gott. Wodurch? Durch die Antwort an den Schächer. Und wodurch noch? Durch die Verfinsterung der Sonne, durch das Beben der Erde. Und wodurch noch? Durch das Gebet für seine Feinde: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Wahrhaftig, die Menschen wissen nicht, was sie mit Christus machen. Aus böser Unwissenheit kreuzigten sie Christus, aus Unwissenheit kreuzigen sie Ihn auch heute noch. Denn hätten sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (1. Kor. 2,8). In Sanftmut und Demut kam der Herr in diese Welt. Gibt es etwa eine höhere Sanftmut und Demut, als wenn Gott Mensch wird, sich in den vergänglichen, engen, kärglichen Menschenleib kleidet? In Sanftmut und Demut ging auch der Herr aus der Welt. Er ging sanftmütig und betete noch für seine Peiniger. Die Leute kennen Christus nicht, daher verfolgen sie Ihn, sie wissen nicht, wie groß diese Liebe, diese Sanftmut, diese Demut ist, wenn Gott gestattet, daß die Menschen Ihn richten, daß die Menschen Ihn anspeien, daß die Menschen Ihn schlagen und töten.
Schrecklich ist das Schicksal Christi auch heute auf der Erde, Bruder: Jede meiner Sünden ist ein Karfreitag für Ihn. Vier meiner Sünden – und ich habe bereits selber den Herrn Jesus gekreuzigt. Jede deiner Sünden, Bruder, ist für Ihn eine größere Qual als für dich und für mich. Indem du Sünden tust, kreuzigst du Ihn. Jeder unreine Gedanke, jede lüsterne Empfindung schreien und heulen: Kreuzige, kreuzige Ihn! Ist nicht unser ganzes Leben auf Erden ein nicht endender Karfreitag für den Herrn Christus? Jede meiner Sünden – ein Nagel, den ich in die Hand des sanften Herrn schlage, jede meiner Leidenschaften – ein Dorn, alle meine Leidenschaften – die Dornenkrone, welche sie auf das Haupt Christi setzten. Unsere Schmähung Christi ist schrecklicher als die der Juden. Die Juden konnten eben nicht an Christus glauben, weil Er noch nicht auferstanden war. Aber wir, denen Christus schon 20 Jahrhunderte lang mit Kraft von Seiner Auferstehung bezeugt, wir lachen den auferstandenden Christus aus, wir bespeien den auferstandenen Christus, wir kreuzigen Christus erneut, und dazu noch den auferstandenen Christus! Kreuzigt den auferstandenen Christus nicht etwa der Priester, der durch sein Leben seine Herde von Christus entfernt? Peinigt und verlacht etwa nicht der Professor oder Lehrer, der mit seinen theologischen Vorlesungen Gott aus den Seelen seiner Schüler vertreibt, den auferstandenen Christus? Entehrt etwa nicht jeder Christ, der nur dem Namen nach ein Christi ist, Christus, speit er etwa nicht den auferstandenen Christus an?
Oh weh, wir verfolgen unaufhörlich den auferstandenen Christus... Wie, wie denn verfolgen wir Christus, – fragt da einer –, wo Er doch nicht physisch mit uns ist? Wo wir doch Seinen Körper nicht sehen? Ach, wir verfolgen Christus, Bruder, wenn wir Seinen Geist verfolgen, wenn wir Seine Lehre verfolgen, wenn wir Seine Heiligen verfolgen, wenn wir Seine Kirche verfolgen. Wir verfolgen Christus, wenn wir den Bittsteller verjagen: Denn Er ist es, der in dem Bittenden bittet. Wir verfolgen Christus, wenn wir den Entkleideten nicht ankleiden: Denn in dem Nackten ist Christus nackt. Wir verfolgen Christus, wenn wir den Hungrigen nicht speisen: Denn in dem Hungrigen hungert Christus. Wir verfolgen Christus, wenn wir den Kranken nicht besuchen: Denn in dem Gebrechlichen leidet Christus. In jedem Dulder duldet der Herr Christus, in jedem Betrübten trauert der Herr Christus. Aus Seiner unendlichen Menschenliebe verkörpert Er sich unaufhörlich in der Gestalt aller Hungrigen, aller Kranken, aller Dürstenden, aller Trauernden, aller Unglücklichen, aller Verachteten, aller Bescholtenen, aller Erniedrigten, aller Beleidigten, aller Entkleideten, aller Vertriebenen. Er nimmt unaufhörlich den menschlichen Leib auf sich, leidet mit ihm, leidet Pein in ihm und ist betrübt in ihm. Aus Seinem unermeßlichen Erbarmen vereinigt Er sich unaufhörlich mit ihnen: Wiefern ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan (Mt. 25,40). Wiefern ihr es einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr es auch mir nicht getan (Mt. 25,45). Christus verkörpert sich in jedem Christen. Höre, was Er spricht: Saulus, Saulus, was verfolgst du Mich? (Apg. 9,4), denn wenn du jene verfolgtst, die an Mich glauben, dann verfolgst du Mich; bespeist du jene, die an Mich glauben, dann bespeist du Mich; quälst du jene, die an Mich glauben, dann quälst du Mich.
Nicht nur für den Herrn Christus, Bruder, sondern für alle Christusliebenden ist das Leben auf Erden ein unaufhörlicher Karfreitag. Je mehr du Christus in dir hast, um so mehr verfolgen sie dich. Wenn du Christi bist, dann betrachte dich als Unrat der Erde, den alle mit Füßen treten, wie sie Christus traten. Wenn sie dich verfluchen, so segne, wenn sie dich schlagen, so verzeihe, wenn sie dich hassen, so liebe sie. Durch Geduld besiegst du die Peiniger, so wie der Herr es tat. Antworte auf Böses mit Gutem; kämpfe, wie der Herr Christus kämpfte; den Stolz bekämpfe durch Demut, die Grobheit bekämpfe durch Sanftmut, den Haß bekämpfe durch Liebe, die Beleidigung bekämpfe durch Vergebung, die Verleumdung bekämpfe durch Gebet. Das ist der Weg des Sieges, der Weg, den ein für allemal der Herr Jesus bahnte, er führt durch Leiden zur Auferstehung. Wir beschreiten diesen Weg, den einzigen, welcher durch die Auferstehung vollendet wird, wenn wir jene segnen, die uns verfluchen, wenn wir Gutes tun jenen, die uns hassen, wenn wir unsere Feinde lieben, wenn wir nicht erzürnen, so man uns kränkt, wenn wir beten, so man uns schmäht, wenn wir gebetvoll erdulden, so man auf uns bespuckt. Und ganz gewiß befinden wir uns auf dem Pfad, der mit dem triumphalen Sieg über den Tod endet, wenn wir sogar dann, so man uns kreuzigt, Christusgleich für unsere Peiniger beten: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Amen.