Predigt zum Herrentag vom verlorenen Sohn (1. Kor. 6: 12-20; Lk. 15: 11-32) (28.02.2016)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

wie in den vorangegangenen Wochen der Vorbereitung will uns die Kirche auch am heutigen Tag auf die Große Fastenzeit einstimmen. Sie tut das erneut auch aus der Motivation heraus, uns vor verderbenbringenden Irrtümern zu bewahren. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn kennt jeder, aber oft wird übersehen, dass hierbei von zwei Söhnen die Rede ist. Interessant ist für uns heute das Beispiel des älteren Bruders, dem im Gleichnis formal nur eine Rolle als Nebendarsteller beschieden ist. Bei näherem Hinsehen erkennen wir anhand gerade seines Verhaltens, welche Gefahren selbst dann auf uns lauern, wenn wir uns nicht (wie der jüngere Bruder) bewusst aus der Gemeinschaft mit Gott entfernt haben. 

Was zeichnet den älteren Bruder aus? - Er ist seinem Vater immer treu gewesen und hat nie gegen dessen Anordnungen verstoßen (s. Lk. 15: 29). Wer wird da in Abrede stellen, dass dies gewichtige Gründe sind, den älteren der beiden Söhne als tugendhaft und gerecht anzusehen?! … Und, in der Tat, vor Gott sind diese Vorzüge gefragt. Aber in ihrer stringentesten Form sind alttestamentlicher Gehorsam und Gesetzeskonformität für die Erlangung des Himmelreichs nicht  unbedingt zielführend. Selbst monastischer Gehorsam muss auf Liebe, Demut und Vertrauen basieren, sonst unterscheidet er sich nicht vom religiösen Fanatismus oder ideologischen Kadavergehorsam. Wie leicht kann man dann seinen Bruder verurteilen, anstatt ihn durch Geduld und Einfühlungsvermögen auf den rechten Weg zu bringen?! Und wird der Weg der Sanftmut Christi nicht eingehalten, ist die Gefahr groß, selbst in Versuchung zu geraten (s. Gal. 6: 1).*)

Der ältere Sohn erscheint zunächst zwar gewissenhaft, aber auf den zweiten Blick wird erkennbar, dass auch er gerne schon jetzt seine Belohnung gehabt hätte (s. 15: 30), d.h. all die Jahre aus Berechnung und nicht aus Liebe dem Vater gedient hat. Er erweist sich just dessen schuldig, wessen er seinen Bruder bezichtigt, dass dieser nämlich nicht auf den vom Vater bestimmten Zeitpunkt des Erbantritts warten (s. Lk. 15: 12; vgl. Gal. 4: 2), sondern schon jetzt das Leben in vollen Zügen genießen wollte. Er offenbart somit die leider auch bei frommen Kirchgängern oftmals zu beobachtende Haltung, dass sie sich mit der seligmachenden Armut Christi (s. Lk. 6: 20) nicht abfinden wollen und daher nicht nur die mit irdischem Glück und Erfolg gesegneten Mitchristen, sondern unterschwellig auch die eigentlich bedauernswerten „Reichen und Schönen“ dieser Welt verachtungsvoll beneiden. 

Frömmigkeit und Rechtschaffenheit erweisen sich da als wertlos, wo keine Liebe ist (1. Kor. 13: 1-3). Ohne sie ist kein Wachstum in der Gnade auch nur ansatzweise denkbar. Zum Glück haben wir einen „Kompass“, der uns bei dieser individuellen Standortbestimmung behilflich ist: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung: dem allen widerspricht das Gesetz nicht“ (Gal. 5: 22-23). Das ist unser Plansoll für die bald folgenden heiligen Wochen!!!

Wenn Gesetzestreue und Rechtschaffenheit also nur dazu führen, dass wir im Mitmenschen nicht mehr den geliebten Bruder erkennen (s. Lk. 15: 30), dann haben wir das von Gott gesteckte Ziel verfehlt. Dann haben wir uns selbst der Kindesschaft Gottes entledigt. Und wer andere wegen ihrer Verfehlungen verurteilt, wird selbst umso strenger bewertet: „Wer das ganze Gesetz hält und nur gegen ein einziges Gebot verstößt, der hat sich gegen alle verfehlt“ (Jak. 2: 10). Bei Gott gelten andere „Gesetze“ als bei Menschen. Der gefallene Sünder darf jederzeit auf Gnade hoffen, nicht aber der selbstgerechte Tugendwächter: „Das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht“ (Jak. 2: 13). 

Welch ein Warnsignal an uns alle vor Beginn der Großen Fastenzeit, denn die Kaltherzigkeit des älteren Bruders stellt eine weitere Eskalation auf dem Wege der Entfremdung von der Liebe zu Gott und dem Mitmenschen dar! Während der Pharisäer im Tempel zu Jerusalem den Zöllner wohl überhaupt nicht persönlich kannte, waren seine Bewertungen folglich nichts als Vorurteile, an denen manchmal vielleicht etwas „dran“ sein kann. Doch im vorliegenden Fall wird das vernichtende Urteil über den eigenen Bruder gefällt, über dessen Leben man bis ins kleinste Detail Bescheid weiß (s. Lk. 15: 30). Dies ist also ein Beispiel dafür, wie die Selbstbezogenheit sogar in Verachtung gegen das eigene Fleisch und Blut münden kann. Waren im Falle des Pharisäers noch soziale, nicht persönliche Faktoren ausschlaggebend für die Aversion gegenüber dem Zöllner, vernichtet hier die Eigensucht sogar die aus Natur vorhandene Liebe. 

Wer von beiden Brüdern ist am Ende denn nun wirklich der verlorene Sohn?!...

Um vor unheilvoller Verfinsterung des Gemüts bewahrt zu werden, müssen wir ständig bemüht sein, uns „den Geist Christi“ (1. Kor. 2: 16) anzueignen. Das aber wird nur in der Gemeinschaft mit Christus und mit allen unseren Brüdern und Schwestern möglich sein – in den Mysterien der Kirche. Amen.

 

 

*) Als das emotionsgeladene Ortsderby zwischen Don Camillos „Eintracht“ und Peppones „Dynamo“ durch einen irregulären Treffer in letzter Minute zugunsten der kommunistischen Kicker entschieden wird, wollen sich die aufgebrachten Anhänger der Klerikalen auf den Schiedsrichter stürzen. Um der Lynchjustiz zu entgehen, flüchtet sich dieser nach einer wilden Treibjagd durch ganz Brescello mit letzter Kraft in die Kirche. Nachdem Don Camillo dort mithilfe von „erweiterten Beichtmethoden“ von ihm erfahren hat, warum das Spiel zu Ungunsten der von ihm betreuten Auswahl ausgegangen ist, will er den „Unparteiischen“ - Kirchenasyl hin oder her – an Ort und Stelle der fälligen Satisfaktion zuführen, was jedoch sofort eine Intervention von höchster Stelle nach sich zieht: „Don Camillo, was machst du da?! Dieser Mann hat sich in seiner Angst gerade unter den Schutz der Kirche begeben!“ - „Aber Herr, hast Du nicht gehört? Dieser Schuft hat uns für 5.000 Lire verpfiffen, die Peppone ihm gegeben hat!“ - „Ja, Don Camillo, für doppelt soviel wie du ihm geboten hast...“

Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch

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