Predigt zum 16. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor. 6:1-10; Lk. 6:31-36) (13.10.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
in seinem Schreiben an die Korinther wendet sich der heilige Apostel Paulus an die von ihm gegründete Gemeinde mit den Worten: „Als Mitarbeiter Gottes ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade nicht vergebens empfangt“ (2 Kor. 6:1). Wer nur ein bisschen Ahnung von unserem Glauben hat, der begreift sofort, was diese Worte bedeuten. Die Gnade vergeblich empfangen ist in etwa so wie die Eintrittskarte für das Paradies in der Tasche zu haben, aber dennoch aus eigener Schuld nicht in dasselbe hineinzugelangen. Aus dem Gesamtzusammenhang des Neuen Testamentes und vor allem der Briefe des Apostels Paulus ist nämlich ersichtlich, dass wir durch Gnade gerettet werden, nicht durch Werke (s. Joh. 1:12-13,16-17; Eph. 2:5,8-9). Wir können aus eigenem Vermögen nicht gerettet werden, obgleich wir selbstverständlich etwas zu unserem Heil beitragen können. Doch letztlich „verdienen“ wir unsere Errettung nicht – das ist allein durch Gottes Gnade aufgrund unseres Glaubens möglich. Der Glaube allein, also ohne das aktive Bemühen um Gottes Gnade, reicht keineswegs aus. Und, so gesehen, ist die Unwirksamkeit der uns in der Taufe und Myronsalbung reichlich gewährten Gnade gleichzusetzen mit dem Verlust des ewigen Lebens. Der Synergismus zwischen der Gnade Gottes und unseres Glaubens beinhaltet nun mal die aktive Teilnahme am Prozess der Erneuerung unserer Seelen. Wer das als aus Wasser und Geist wiedergeborener Christ (s. Joh. 3:5) nicht beherzigt, begeht einen Frevel gegen der göttliche Gnade und trägt selbst Schuld am Verlust der eigenen Seele.
Manche Menschen meinen, mit Gott scherzen zu können, Ihn nicht ernst nehmen zu müssen (!). Es ist ja der liebe Gott, mit Ihm kann man es ja machen… Auch wenn Gott die Liebe und Jesus Christus somit die Fleisch gewordene Liebe ist (s. 1 Joh. 4:16; vgl. Röm. 8:38-39), ist Er nichtsdestotrotz auch die Wahrheit (s. Joh. 14:6). Das eine kann nicht vom anderen getrennt werden, ohne diese Gerechtigkeit wäre die göttliche Macht nichtig. Der Prophet David spricht folgendermaßen: „Dein ist der Arm in Herrschermacht, es herrsche Deine Hand, und erhoben sei Deine Rechte. Gerechtigkeit und Recht sind die Bereitung Deines Throns, Erbarmen und Wahrheit gehen Deinem Antlitz voraus“ (Ps. 88:14-15). Manche würden es wohl gerne haben, dass Erbarmen ohne Wahrheit dem Antlitz Gottes vorausgingen und die Menschen somit einen Freifahrtschein für ein Leben nach eigenem Gutdünken hätten…
Ein Leben ohne die Gnade Gottes ist bestenfalls einem benevolenten Bestreben nach menschlichem Vermögen und gemäß dem menschlichen Denken gleichzusetzen. Für Menschen, die das Gesetz Gottes nicht kennen (vgl. Röm. 2:12-16) und die nichts von der Gnade Gottes (vgl. Apg. 19:1-7) wissen, mag dies verzeihlich sein, nicht aber für getaufte Christen, welchen der Zugang zu allen Quellen der Wahrheit jederzeit offensteht.
Die heutige Lesung aus dem Evangelium zeigt deutlich auf, wie der Herr vom natürlichen Gesetz, das für jeden klar denkenden Menschen Grundlage jeglichen moralischen Handelns sein muss („Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ – Lk. 6:31) zum Gesetz der Gnade übergeht, durch das Gott im Menschen zu wirken beginnt („Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden“ – 6:32). Das Ziel eines solchen Bemühens lässt sich aus den Worten des heiligen Apostels Paulus ableiten: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2:20).
Für die Erfüllung des natürlichen Gesetzes, das für den gefallenen Menschen schon der Gipfel des Erreichbaren ist, gibt es zwar evtl. einen irdischen Lohn – es wird einem auf gleiche Weise vergolten – aber noch lange keinen himmlischen. Hier lautet die Faustregel schlicht und ergreifend: Irdisches für Irdisches. Wer den himmlischen Lohn erhalten will, der weiß schon aus den Seligpreisungen, dass dieser nur durch einen Weg entgegen den Regeln der diesseitigen Welt zu erlangen ist (s. Mt. 5:10-12; Lk. 6:20-26; vgl. Mt. 19:21; Mk. 10:21; Lk. 18:22). Das, und nur das ist der Weg der Erlangung der Gnade des Heiligen Geistes. Die heutige Apostellesung zeigt es auf, „denn es heißt: ´Zur Zeit der Gnade erhöre Ich dich, am Tag der Rettung helfe Ich dir`. Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung. Niemand geben wir auch nur den geringsten Anstoß, damit unser Dienst nicht getadelt werden kann. In allem erweisen wir uns als Gottes Diener: durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten, durch lautere Gesinnung, durch Erkenntnis, durch Langmut, durch Güte, durch den Heiligen Geist, durch ungeheuchelte Liebe, durch das Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit in der Rechten und in der Linken, bei Ehrung und Schmähung, bei übler Nachrede und bei Lob. Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig; wir werden verkannt und doch anerkannt; wir sind wie Sterbende, und seht: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich, wir haben nichts und haben doch alles“ (2 Kor. 6:2-10).
Das Leben in Christo ist nicht nur voller Paradoxa, es ist (aus irdischer Sicht) ein einziges Paradoxon (s. 1 Kor. 1:18-31; vgl. Mt. 16:25; Mk. 8:35; Lk. 9:24; Joh. 12:25). „Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann“ (1 Kor. 2:14). Amen.