Predigt zum Hochfest des Entschlafens der Allerheiligsten Gottesgebärerin (Phil. 2: 5-11; Lk. 10: 38-42; 11: 27-28) (28.08.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
das Entschlafen der Allerheiligsten Theotokos ist eines der schönsten und freudigsten Feste im Kirchenjahr. Als ich vor genau dreißig Jahren diesem Fest an der Grabstätte der Gottesmutter zu Gethsemane beiwohnte, begriff ich, der ich zuvor der Meinung war, dies sei eigentlich ein „Trauertag“, warum dieser Feiertag in Jerusalem als „zweites Ostern“ bezeichnet wird.
Die überirdische Freude dieses Festes wird vor allem im Gesamtzusammenhang des Kirchenjahres begreifbar. In der vorangegangenen zweiwöchigen Fastenzeit gedachten wir zunächst des Paradieses als Ausgangspunkt unserer Gemeinschaft mit dem Schöpfer; zum Fest der Verklärung des Herrn in der Mitte dieser Vorbereitungszeit wurden wir mit den drei engsten Vertrauten des Herrn Teilnehmer an ihrem Zeugnis von der nun auch uns zugänglichen paradiesischen Herrlichkeit Gottes; und zum Abschluss erleben wir die leibliche Aufnahme in den Himmel Derer, Die für uns den Erlöser gebar! Ihre kindlich reine Seele wird ikonographisch in der Gestalt eines Kindes dargestellt, welches der Erlöser, umgeben von anderen Teilhabern Seiner herrlichen Auferstehung, auf den Händen hält. Einen Grund zur Traurigkeit kann man beim Anblick der Festikone jedenfalls lange suchen. Auch hymnographisch strahlt dieser Tag ebenfalls nur Freude in die Herzen der Gläubigen aus:
„In der Geburt hast Du die Jungfräulichkeit bewahrt, im Tod die Welt nicht verlassen, o Gottesgebärerin; Du bist übergegangen zum Leben, die Du die Mutter des Lebens bist, und erlöst durch Deine Fürbitten vom Tode unsere Seelen“. (Troparion zum Fest).
Das Entschlafen der Mutter des Herrn bildet den letzten Höhepunkt des Kirchenjahres, in ihm schließt sich der (Jahres-)Kreis der Geschichte unserer Errettung, denn an der Allreinen Jungfrau wurden, mehr als bei allen Heiligen, die Früchte der Auferstehung Ihres göttlichen Sohnes erkennbar:
„Die in Fürbitten unermüdliche Gottesgebärerin und in der Fürsprache unerschütterliche Hoffnung haben Grab und Tod nicht überwältigt; denn als Mutter des Lebens hat Sie zum Leben hinübergeführt Der, Welcher einst Ihren immerwährend jungfräulichen Schoß zur Wohnung genommen hatte“. (Kondakion zum Fest).
Noch einmal wird liturgisch verdeutlicht: das Paradies ist die Liebe Gottes, oder besser, Gott – die Liebe Selbst. Wir sprachen letzten Sonntag über die Zeugen der Auferstehung, und zuvor, zum Hochfest der Verklärung Christi über die Wahrnehmung des nicht-geschaffenen Lichts durch die drei Jünger, die einen Vorgeschmack auf das Paradies erheischten: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind“ (Mt. 17: 4; vgl. Mk. 9: 5; Lk. 9: 33), sagte einer von ihnen im Zustand der Verzückung, und ein anderer gab Jahrzehnte später euphorisch von sich: „Und wir haben Seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1: 14). Wir erinnern uns ferner an den Apostel Paulus, der in „das Paradies entrückt wurde“ und „er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann“ (2. Kor. 12: 4). Wir wissen: sie haben „das Reich Gottes (in seiner ganzen Macht)“ gesehen (Mk. 9:1; vgl. Mt. 16: 28; Lk. 9: 27). Wenn auch noch Jahrhunderte nach ihnen unzähligen Heiligen diese Herrlichkeit zuteil wurde und wird, wie hätte es denn sein können, dass ausgerechnet die Gesegnete unter allen Frauen (s. Lk. 1: 42) von dieser Vollendung (s. Hebr. 11: 40) ausgeschlossen wäre?!
Das Reich Gottes ist sogar denen nahe, die von ihm partout nichts hören wollen (s. Lk. 10: 9). Es ist jedoch definitiv kein Paradies nach menschlichen Vorstellungen (s. Lk. 13: 18, 20), was den göttlichen Ursprung des Evangeliums vom Reich Gottes belegt. Wenn schon die materielle Welt vor dem Sündenfall sich essenziell von unserem gegenwärtigen Tränental unterschied, dann doch umso mehr das Himmelreich! Wenn also die jenseitige Welt grundsätzlich vom ganzen Wesen her andersartig ist, kann sie doch gar nicht unseren irdischen Vorstellungen entsprechen, und kann folglich nicht im geringsten durch menschliches Denken erfasst werden! Oh, wenn einer der unglückseligen jungen Männer, die sich selbst und Dutzende andere um der (vermeintlichen) Seligkeit willen tagtäglich in die Luft sprengen, ähnlich dem Apostel Paulus für kurze Zeit in sein (angenommenes) Paradies entrückt würde – was könnte er nach der Rückkehr von dort berichten?!.. - Wohl kaum etwas, was es nicht schon im Rotlichtmilieu dieser gefallenen Welt gäbe...
In der Menschheitsgeschichte gab es nur einen, der jegliches vorstellbare Glück auf Erden im Überfluss besessen hat: sprichwörtliche Weisheit, unermesslichen Reichtum, grenzenlose Macht, weltweite Bewunderung, unerschütterlichen Frieden, vortreffliche Gesundheit, dazu einen gigantischen Harem. Hat er aber darin sein „Paradies“ gefunden?!.. Als er im hohen Alter auf sein Leben zurückblickte, sagte er vollkommen desillusioniert: „Das ist alles Windhauch und Luftgespinst. Es gibt keinen Vorteil unter der Sonne“ (Koh. 2: 11).
Wer aber das Himmelreich anstrebt, der wird alles Irdische um der paradiesischen Wonne der Gemeinschaft mit Christus geringschätzen, denn er kann sich einen Schatz sammeln „als sichere Grundlage für die Zukunft, um das wahre Leben zu erlangen“ (1. Tim: 6: 19). Die Mutter Gottes zeigt uns heute in Ihrem seligen Entschlafen, dass dieser Weg dank der Auferstehung Ihres Sohnes für uns alle gangbar geworden ist. Wahrlich, der heutige Tag ist wie „ein zweites Ostern“ für alle, die die Herrlichkeit Gottes lieben. Amen.