Predigt zum Sonntag aller Heiligen des Russischen Landes (17.06.2012) (Mt 4, 18-23)
Liebe Brüder und Schwestern,
als der Russischen Kirche zugehörige Gemeinde begehen wir heute, eine Woche nach dem Sonntag Aller Heiligen, den Festtag der Synaxe der russischen Heiligen. Man könnte meinen, dies sei ein Anlass, sich selbstzufrieden auf die eigene Schulter zu klopfen, sich die großartigen Momente der russischen Kirchengeschichte anhand der leuchtenden Beispiele ihrer würdigsten Vertreter in Erinnerung zu rufen - und wieder zur Tagesordnung überzugehen. Aber ist so ein Festtag eigentlich dazu da, um in Erinnerungen zu schwelgen, oder um Wunsch und Wirklichkeit kritisch miteinander zu vergleichen? Und spielt sich unser geistliches Leben eigentlich in der Vergangenheit oder vielmehr in der Gegenwart ab?
Eines vorweg: die Russische Kirche hat großartige Heilige hervorgebracht, sie tut es noch bis heute. Durch den erstberufenen Jünger des Herrn wurde ihr apostolisches Fundament neunhundert Jahre vor der Taufe der Kiewer Rus´ unter dem Apostelgleichen Wladimir gelegt. Letzterem folgte ein ganzes Heer aus rechtgläubigen Fürsten, aus Heiligen des Mönchsstandes, Hierarchen, Narren um Christi willen. Schließlich erwiesen sich die Glaubens- und Blutzeugen Russlands als spirituelle Früchte der grausamsten Kirchenverfolgung aller Zeiten. Nach ihnen kamen die zahlreichen bekannten und weniger bekannten Heiligen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Sicher darf man zurecht auf diesen Chor der Heiligen stolz sein, - aber Hochmut ist fehl am Platz, denn: die Errichtung eines Holzkreuzes durch den Apostel Andreas auf dem Hügel über dem Dnjepr war lediglich ein erster Lichtstrahl in der noch Jahrhunderte andauernden Finsternis der Götzenverehrung unserer Vorfahren; die asketische Standhaftigkeit des russischen Mönchtums war eine Reaktion auf den herrschenden Sittenverfall, vor allem, aber nicht nur der Machthaber im Lande; herausragende Kirchenmänner brachte die Kirche immer dann hervor, wenn es im Episkopat, im Klerus oder im Kirchenvolk richtig brodelte; Narren in Christo wie hielten der herrschenden Klasse und auch der selbstgerechten „Volksfrömmigkeit“ auf wundersame und eigentümliche Weise den Spiegel vor; Bekenner erhoben ihre Stimme und Martyrer vergossen ihr Blut stets dann, wenn der massenhafte Verrat an den Idealen des Glaubens im Volk immer neue, bislang unbekannte und ungeahnte Ausmaße erlangte; die Heiligen der Sowjetzeit schließlich waren Leuchttürme im schier undurchdringlichen Nebel einer Epoche, in der sich ganze Volksmassen einer atheistischen Weltanschauung verschrieben hatten, während Kirchen zu Fabriken, Schwimmhallen und Viehställen umfunktioniert wurden.
Also schenkt uns Gott Seine Gnade nicht für unsere Tugenden. Gott spricht vielmehr in der Person des Apostels Paulus zu uns: „Meine Gnade (…) erweist ihre Kraft in der Schwachheit“ (2 Kor. 12: 9).
Auch unsere Schwachheit, sowohl die jedes einzelnen von uns, als auch die von uns allen als Gemeinde trat schon des öfteren zutage. Nichtsdestotrotz verspürten sogar Außenstehende bei unserem Patronatsfest zu Ehren des hl. Isidor eine deutliche Manifestation der Gnade Gottes in unserer Gemeinde. Aber das ist nicht unserer Tugendhaftigkeit geschuldet, nein - „vielmehr will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt (2 Kor. 12: 9).
Der Herr erwartet von uns, dass wir uns unsere eigene Schwachheit eingestehen, und da, wo sie unabwendbar ist, auch akzeptieren. Weiter will Gott, dass wir die Schwachheit des jeweils Anderen zunächst als gegeben hinnehmen, und wenn, dann nur durch ein beharrliches Arbeiten an unserer eigenen Schwachheit die Schwachheit des Anderen überwinden. Nichts anderes bedeuten die Worte: „Wenn einer sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, (…) so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanfmut wieder auf den rechten Weg bringen“ (Gal. 6: 1).
Doch wie erlange ich den „Geist der Sanfmut“, der dazu notwendig ist? - Ganz einfach: mithilfe des täglichen Lebens. Ich lebe ja nicht in der Wüste, auch nicht unter Engeln. Meine Mitmenschen werden schon dafür sorgen, dass ich genügend Lehrstunden in dieser Tugend erhalte.
Es war einmal ein russischer Mönch, der hatte einen sehr aufbrausenden und hochmütigen Charakter. Er betet lange unter Tränen, Gott möge ihm dabei helfen, diese seine Schwäche zu beheben. Er bot seine ganze, irgendwo doch noch in ihm schlummernde Menschenliebe auf und entschloss sich, von nun an alle anderen Mönche als seine geliebten Mitbrüder zu betrachten. Er ging anschließend voller Tatendrang und Zuversicht auf den Klosterhof und traf tatsächlich jenen herzensguten, freundlichen und demütigen Mönch, mit dem er sich bisher als einzigem noch nie im Clinch befunden hatte. Auf die freundliche Begrüßung unseres Mönches fauchte ihn dieser aber in ungewohnt schroffer Form an und verschwand im Refektorium. Etwas später begegnete ihm ein anderer Mitbruder, gebildet und hochintelligent, der einzige, den unser Mönch überhaupt im ganzen Kloster für respektwürdig, - weil ihm selbst ebenbürtig, - hielt. Doch anstatt die freundlichen Worte („Wie geht es? Na, schönes Wetter heut´!?“) zu erwidern, ignorierte ihn dieser und ging weiter seines Weges. Unser Mönch rannte, der Verzweiflung nahe, in seine Zelle und rief laut: „O Herr, ich habe Dich doch so sehr gebeten. Warum hifst Du mir nicht, meiner Schwachheit Herr zu werden?!“ Daraufhin vernahm er in seinem Herzen eine Stimme: „Ich habe dir doch gerade eben zweimal die Gelegenheit zu einem Neuanfang gegeben“...
Jeder von uns für sich und wir alle zusammen werden auch in Zukunft Prüfungen sowohl in unserem Privat-, als auch in unserem Gemeindeleben ausgesetzt sein. Es sind Gelegenheiten, die uns angebotene Gnade Gottes zu erlangen, sie zu vermehren, oder – diese auszuschlagen. Wir haben die Wahl.
„Heißt das nun, dass wir an der Sünde festhalten sollen, damit die Gnade mächtiger werde?“ (Röm. 6: 1). Oder „heißt das nun, dass wir sündigen dürfen, weil wir nicht unter dem Gesetz stehen, sondern unter der Gnade? Keineswegs!“ (6: 15) Wir, „die wir in Christus getauft wurden“, sind doch „in Seinen Tod getauft“ (6:3). Und nur wenn „unser alter Mensch mitgekreuzigt“ wird, werden „wir nicht mehr länger Sklaven der Sünde bleiben“, sondern im Tode mit Christus „frei von der Sünde“, um letzten Endes auch mit Ihm in der Auferstehung zu sein (s. 6: 6-7).
Und so wollen wir uns „allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen“ (Gal. 6: 14). So wie unsere Heiligen es vorgemacht haben.
Somit ist das wichtigste und grundlegendste Kriterium des Heiligseins die Gemeinschaft mit Christus und Seinen Heiligen. Diese Einheit vollzieht sich durch unsere lebendige Mitgliedschaft im Leib Christi, - für uns konkret in unserer Russischen Landeskirche, zu der unsere Berliner Diözese gehört und von der unsere deutsche Gemeinde wiederum eine Gliederung ist. In dieser Gemeinschaft werden auch wir geheiligt. Lasst uns alle dieses Gnadengeschenk Gottes annehmen und kein irdisches Gut höher achten, als die Gemeinschaft derer, die von „Gott geliebt sind“. Durch diese Gemeinschaft werden auch wir zu „berufenen Heiligen“, erlangen auch wir die Gnade und den Frieden von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus (s. Röm 1: 7).
Amen.