Predigt zum Sonntag Aller Heiligen des Deutschen Landes (24.06.2012) (Mt 4, 18-23)
Liebe Brüder und Schwestern,
für uns als eine der wenigen deutschsprachigen Gemeinden hierzulande bietet der heutige Tag einen besonderen Anlass über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Heimatlandes nachzudenken. Deutschland ist ja auch für zahlreiche gebürtige nicht-deutsche orthodoxe Christen zur zweiten Heimat geworden, und für deren Kinder – mich eingeschlossen – zur einzigen Heimat, auch wenn die Liebe zur Heimat der Eltern und Großeltern im Herzen weiter bestehen bleibt.
Doch leider kommt es immer noch vor, dass Deutschland für Orthodoxe aus Familien mit Migrationshintergrund nur als Wohnort, nicht aber als Heimat angesehen wird. So ergeben sich in bezug auf die Zukunft zwangsläufig fast nur zwei Alternativen für die Nachkommen orthodoxer Einwanderer: a) entweder man „wird Deutscher“, d.h. man bricht mit der Tradition der Vorfahren und hält eine bestenfalls nur folkloristische Beziehung zum orthodoxen Glauben aufrecht, oder b) man hält an der „Tradition der Väter“ fest und kapselt sich von der Gesellschaft ab und fristet ein subkulturelles Dasein inmitten der modernen Gesellschaft.
Da stellt sich doch die Frage: gibt es denn keinen „goldenen Mittelweg“?
Mir scheint, dieser Königsweg könnte in der Erkenntnis bestehen, dass Deutschland ein Land mit christlicher Tradition ist, dass es in der Himmlischen Kirche nicht wenige Heilige gibt, die entweder auf deutschem Boden gewirkt oder von deutscher Herkunft waren. Das „Deutsche Land“ umfasst im kirchenhistorischen Kontext ja nicht nur das politische Gebilde unserer heutigen Bundesrepublik, sondern den gesamten deutschsprachigen Raum (vormals auch die Niederlande) bzw. auch die ehemaligen deutschen Gebiete im Osten. Wer einen Kalender der Gesellschaft Orthodoxe Medien e.V. besitzt, hat eine Vorstellung davon, wieviele Heilige in dieser, für „gebürtige“ Orthodoxe weitestgehend verborgenen abendländischen Schatztruhe der ungeteilten Kirche schlummern, die die christliche Kultur dieses Landes geprägt und durch ihr Wirken, ihr Leben und ihren Tod Zeugnis für das Evangelium abgelegt haben.
Heute leben wir jedoch – und das muss auch gesagt werden – in einem Land, in dem die Normen des Evangeliums eigentlich nur noch eine periphäre Rolle spielen. So haben in den zurückliegenden vierzig Jahren Frauen ihr „Recht auf Abtreibung“ erstritten, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind der „traditionellen“ Ehe rechtlich so gut wie gleichgestellt, Prostitution gilt ganz offiziell nicht mehr als sittenwidrig. Was noch kommen wird, können wir uns heute noch gar nicht vorstellen. Kurzum, vor einem halben Jahrhundert waren Frömmigkeit und Sittsamkeit die Norm, Sittenlosigkeit war nur im privaten Sektor möglich. Heute ist es umgekehrt: Sittenverfall jedweder Art wird als Allgemeingut gefeiert, während Frömmigkeit und Sittenstrenge als Privatangelegenheit gerade noch geduldet werden.
Nein, ich will nicht alles schlechtreden. Wir leben in einem wunderbaren Land mit einer reichen Kultur, einer großen Geschichte, in dem wir heute in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben und alle Möglichkeiten zu einem glücklichen und zufriedenen Leben haben. Dafür sind wir dankbar. Aber die angesprochene rasante „Entwicklung“ der Gesellschaft bereitet uns Sorgen.
Demnach stellt sich die Frage für uns Orthodoxe heute, wie wir uns gegenüber dem deutschen Heimatland verhalten sollten. Nach meiner tiefsten Überzeugung gibt es im Einklang mit der Heiligen Tradition und der Heiligen Schrift nur einen Weg: ob wir es wollen oder nicht, wir sind Teil der Gesellschaft. So wie es die Christen im Römischen Reich, im Osmanischen Reich und in der Sowjetunion waren. Und wenn wir nur zu zehnt oder zu zwölft zusammen beten, dann sind wir eben nur ein kleiner, aber doch ein integrativer Bestandteil dieses Landes. Wir können mit dem was wir sind, was wir haben, diesem Land dienen – die gebürtigen Deutschen und die eingewanderten Mitbrüder und -schwestern . Das ist unser Charisma - uns von Gott anvertraut, für die Ausübung dessen wir dereinst Rechenschaft ablegen werden. Und ich frage mich: gibt es für Christen eine schönere Aufgabe, als mit Christus den uns umgebenden Menschen zu dienen? Mit Christus! Denn: „wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind, da bin Ich mitten unter ihnen“ (Mt. 18: 20), und: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt. 28: 20).
Wenn wir nicht das in unserer Macht Stehende tun, wird dieses Land, wird diese Gesellschaft eben ohne die „orthodoxe Fraktion“ auskommen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand unter uns das ernsthaft anstreben möchte. Unsere kleine und immer noch nicht voll funktionsfähige Gemeinde ist ein kleiner Beitrag, ein Zukunftsmodell. Gott allein wird bestimmen, wann dieser Protoyp in Serie gehen wird.
Die Heiligen des Deutschen Landes, wozu auch „russische“ Heilige wie unser seliger Isidor oder die Großfürstin Elisabeth gehören, sind uns leuchtende Beispiele und inständige Fürsprecher auf diesem Weg. Ihre Gebete erbitten wir ganz besonders an diesem Tag. Amen.