Predigt zum 30. Herrentag nach Pfingsten / Herrentag der Väter (Hebr. 11:9-10; 17-23; 32-40; Mt. 1:1-25) (31.12.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
der letzte Herrentag vor der Geburt Christi ist den leiblichen Vorfahren unseres Herrn gewidmet, weshalb heute in der Liturgie der „Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Mt. 1:1) gelesen wird. Hierdurch wird verdeutlicht, dass der Retter der Welt sowohl genetisch als auch geistlich-kulturell dem Volk Israel, genauer gesagt, dem Stamm Juda entstammt (s. Gen. 49:8-12; Joёl 4:20; Mt. 1:2; vgl. Joh. 4:22). Das führt uns zur Erkenntnis, dass das „Neue Israel“ untrennbar mit dem erwählten Volk des Alten Testaments als „Erben Gottes und (...) Miterben Christi“ (s. Röm. 8:17) verbunden ist, denn wir wissen, dass die Verheißungen Gottes an den Patriarchen Abraham und den König David in Bezug auf ihre Nachfahren uns, die Christen betreffen, die wir im geistlichen Sinne „Nachfahren“ Jesu Christi sind (s. Gen. 13:16; 15:5; 22:15-18; 2 Kön. / 2 Sam. 7:4-17). Doch dazu später mehr.
Am 13. April 1986 besuchte Papst Johannes Paul II die römische Synagoge und bezeichnete dabei die Juden im Namen der Christenheit als unsere „bevorzugten, und so könnte man gewissermaßen sagen, älteren Brüder“. Diese mit Bedacht gewählten Worte sind bis heute nicht unumstritten. Die Ambivalenz der Beziehung zwischen Christen und Juden findet auch im folgenden Schriftwort ihren Ausdruck: „Vom Evangelium her sind sie Feinde Gottes, und das um euretwillen; von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen“ (Röm. 11:28). Seit Gründung der Kirche hegen sie Feindschaft gegen die Verkünder des Evangeliums und gegen die darauf hin gläubig Gewordenen – also sind sie „Feinde Gottes“ um unseretwillen, doch aufgrund der Verdienste ihrer Väter „sind sie von Gott geliebt“. Die heiligen Väter und Vorväter – Millionen fromme Juden aus der Zeit des Alten Bundes, deren Namen heute nur Gott kennt – erwarben sich diese Verdienste, die ihren leiblichen Nachfahren heute zugute kommen können. Wie der heilige Johannes Chrysostomos sagt, will Gott ihnen zeigen, dass Er sie liebt und sie wieder anzunehmen bereit ist, sobald sie gläubig werden. Und dies wird passieren, sobald „die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben“ (Röm. 11:25). Wir sehen also, dass die Vorväter und Väter nicht nur eine Bewandtnis in der Vergangenheit hatten, sondern Brückenbauer zwischen Christen und Juden in Zukunft sein werden. Dennoch ist es m.E. nicht korrekt, zu sagen: „Eure Propheten sind unsere Propheten“. Die von Gott gesandten Propheten im Alten Bund waren, vom historischen Kontext her, selbstverständlich zu den Israeliten der damaligen Zeit gesandt worden, wie auch Christus Selbst, „das Ende des Gesetzes“ (Röm. 10:4), zunächst zu den (verlorenen) Schafen des Hauses Israel gekommen war (s. Mt. 10:5-6; 15:24). Doch sie waren es ja, welche diese Propheten getötet hatten (s. Mt. 23:31), und so wurden im geistlichen Sinne die Heiden zu Erben Gottes, die nun das Neue Testament empfingen, was in den Gleichnissen vom königlichen Festmahl (s. Mt. 22:1-10; Lk. 14:15-24) und von den bösen Weinbauern (s. Mt. 21:33-46; Mk. 12:1-12; Lk. 20:9-19;) eindrücklich illustriert ist und was sich bereits im Alten Bund abzeichnete (s. Ps. 117:22, Jes. 5:1-7). Die aus falsch verstandener „Höflichkeit“ auf interreligiösem Parkett oder im privaten Bereich oftmals hervorgehobenen Gemeinsamkeiten sollten von uns Christen dahingehend umgedeutet werden, dass unsere „gemeinsamen“ Propheten allesamt Jesus Christus verkündigt haben. Insofern sind die ethnisch mit den Juden verbundenen Propheten, geistlich gesehen (das Wort auch verbietet sich hier meiner Meinung nach), unsere Propheten. Wie dem auch sei, das alles hat aber keinerlei Bedeutung für die Juden als Volk. Vom Evangelium her sind sie Feinde Gottes, nicht aber von ihrer Abstammung, denn von ihrer Erwählung her sind sie von Gott geliebt. Punkt! Christliche Juden sind, so betrachtet, dann sogar doppelt gesegnet!
Der heutige Tag ist also auch eine Würdigung der Verdienste des Volkes, das den wahren Glauben an Gott über Jahrhunderte bewahrt hat. Das Harren auf den Messias steht auch im Fokus der Adventsfastenzeit. Anders als in der Großen Fastenzeit steht hier nicht so sehr die Reue für unsere Sünden im Vordergrund (das natürlich auch, wie in jeder Fastenzeit), sondern die freudige Erwartung des Aufstrahlens der „Sonne der Gerechtigkeit“. Mit den beiden letzten Herrentagen vor der Geburt Christi wächst diese (Vor-)Freude von Tag zu Tag. Auch alle liturgischen Texte in dieser geheiligten Zeit spiegeln diese freudvolle Erwartung wider. Gewissermaßen schließt sich der liturgische Kreis dieser Zeit immer enger: von den Heiligen des Alten Testaments („Herrentag der Vorväter“) über das heutige Gedenken aller leiblichen Vorfahren des Herrn („Herrentag der Väter“) bis hin zu der kleinen Familie, die einen armseligen Viehstall in Bethlehem zum Mittelpunkt der Welt macht! Oder, anders ausgedrückt, in Gottes Vorsehung zielt die gesamte vorangegangene Geschichte der Menschheit – niedergeschrieben in den Büchern der Heiligen Schrift des Alten Bundes – auf die Bereitstellung eines „reinen Gefäßes“ durch die Menschheit ab, aus dem der Gott des Himmels menschliche Gestalt anzunehmen geruhte. Die Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria ist das Wunder des Menschen, das Gott dazu bewegen konnte, in Ihrem allreinen Leib Fleisch anzunehmen! Das letzte Glied des von männlichen Nachkommen dominierten Stammbaums Jesu Christi ist somit das wichtigste, das entscheidende, denn darauf sollte alles hinauslaufen, – ein kurzer Satz, ohne den die gesamte Menschheitsgeschichte, die Geschichte unserer Errettung durch Gott keinen Sinn gehabt hätte: „Jakob war der Vater von Josef, dem Mann Marias; von Ihr wurde Jesus geboren, Der der Christus (der Messias) genannt wird“ (Mt. 1:16). Amen.