Predigt zum 35. Herrentag nach Pfingsten (Kol. 3: 12-16; Lk. 18: 18-27) (31.01.2016)
Liebe Brüder und Schwestern,
in der zurückliegenden Woche (Herrentag nach Theophanien) sprachen wir u.a. davon, dass wir im Mysterium der Taufe unseren Herrn Jesus Christus als Gewand angezogen haben (s. Gal. 3: 27). Wir sprachen weiter davon, dass dieses unvorstellbare Gnadengeschenk von uns würdig angenommen und durch ein tugendhaftes Leben im Geiste Gottes bekräftigt werden soll. In der Taufe aus Wasser wurde durch die Gnade Gottes unser ursprünglicher Zustand des Ersten Menschen wiederhergestellt; nun sind wir berufen, in der Taufe aus dem Geist durch eigenes Wachsen in der Gnade den Zustand des Letzten Adams zu erlangen (s. 1. Kor. 15: 45; vgl. Joh. 3: 5).
Die heute angezeigten Lesungen setzen diesen Gedankenstrang nahtlos fort: „Ihr seid von Gott geliebt, seid Seine auserwählten Heiligen“ (Kol. 3: 12a). Hier ist einerseits von der Gnade des Auserwähltseins, also der unverdienten Gabe, die Rede, andererseits heißt es aber: „Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld!“ (3: 12b) – womit verantwortungsbewusstes, aktives Handeln gemeint ist. Wir sollen gemäß der Lesung der vorigen Woche „zum vollkommenen Menschen werden und Christus in Seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph. 4: 13). Und etwas weiter schreibt derselbe Apostel: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph. 4: 24).
Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass mit allem bisher Gesagten der Synergismus zwischen Gottes Wirken und der Bestrebung des Menschen nach geistlicher Vervollkommnung gemeint ist. Aber dieses geistliche Wachstum ist vielschichtig. So weisen die asketischen Werke der hll. Väter dem nach dem Seelenheil strebenden Christen den Weg ins Himmelreich. Doch über diesen anspruchsvollen Weg wollen wir hier gar nicht reden. Bevor wir uns zu solchen Sphären der Gotteserkenntnis äußern, sollten wir uns gewahr sein, dass es ein „natürliches“ Wachstum gibt, welches für alle Christen die Grundlage zur Erlangung des Himmelreichs bildet. So wie ein Gelehrter erst einmal als Kind in der Schule mit Lesen und Schreiben begonnen haben muss, so ist es auch für jeden von uns notwendig, von klein auf mit dem Glauben und durch den Glauben zu wachsen. Der Fehler, den Eltern begehen, die ihre Kinder taufen lassen, aber ihnen danach keine Gelegenheit zur Vertiefung des Glaubens geben, besteht gerade darin, dass sie denken, der kindliche Glaube an den lieben Gott werde schon bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben... Unstrittig ist, dass Kinder eine besondere Auffassungsgabe für das, was ihnen von Eltern, Erziehern oder durch sonstige Faktoren der äußeren Umgebung vermittelt wird, haben. Ganz gewiss ist die frühe Kindheit eine prägende Phase der Entwicklung des Kindes, wobei der bloße Glaube an den lieben Gott bei einem Minimum an elterlicher Glaubensunterweisung nahezu unerschütterlich erscheint. Doch nach dem Kindesalter kommt die Pubertät, das „Flegelalter“. Nach der rosaroten Kindheit sieht sich der im Schulalter befindliche heranwachsende Jugendliche schon mit größeren moralischen Prüfungen konfrontiert. Als Kind musste er den Eltern oder der Erzieherin gehorchen, doch jetzt kann er schon mehrere Stunden am Tag ohne die Fürsorge von Erwachsenen klarkommen, was freilich mit viel größerer Verantwortung verbunden ist. Er muss nun selbständiges moralisches Denken und Handeln lernen, wozu ein bedeutender Entwicklungssprung im Glauben unerlässlich ist. Auch kann er in der Schule, den Medien oder im Freundeskreis mit differenzierten Weltanschauungsmodellen und anderen virulent propagierten Sichtweisen zu Moral und Lebensführung konfrontiert werden, denen er schutzlos ausgeliefert sein wird, wenn er selbst nicht auf einem gefestigten Fundament des Glaubens steht. Als Ü16-Teenager steht er schließlich auf der Schwelle zum Erwachsenensein – eine Phase des ausgeprägten Sinnes für Romantik, des Idealismus, der Offenheit für alles. Was jetzt in sein Herz und in seinen Kopf eindringt, kann den jungen Menschen vereinnahmen – sowohl im Guten als auch im Bösen. Hier muss der Glaube schon bereits so stark sein, dass er sich selbst und anderen klare Antworten auf alle Herausforderungen und Widersprüche des persönlichen, gesellschaftlichen und spirituellen Lebens zu geben imstande ist.
Alle brauchen die Kirche: „In eurem Herzen herrsche der Friede Christi; dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar! Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade“ (Kol. 3: 15-16).
Im Dialog unseres Herrn mit einem der „führenden Männer“ wird uns verdeutlicht, dass für die Erlangung des Himmelreichs es einfach nicht ausreicht, bloß ein Minimum der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen zu investieren. Gerade das taten ja die fünf törichten Jungfrauen, die trotz ansonsten tadelloser Einhaltung der sittlichen Regeln nicht in das Brautgemach des Herrn hineingelassen wurden (s. Mt. 25: 1-13; vgl. Lk. 18: 20-21). Ohne Herzblut befindet sich der Mensch nur der Form halber in der Gemeinschaft mit Gott. Formen und Regeln dieser Welt sind im Reich Gottes aber wirkungslos. Deshalb sollten wir jeden angebotenen Lackmus-Test in Bezug auf unsere Glaubenstreue ernst nehmen (s. Lk. 18: 22). Dieser wird uns die notwendige Orientierung darüber bieten, ob wir uns wirklich in Gottes Gnade befinden (s. Kol. 3: 16b) oder uns nur einbilden, „Gott im Herzen“ zu haben. Amen.