Predigt zum Lazarus-Samstag (Hebr. 12: 28 – 13: 8; Joh. 11: 1-45) (04.04.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
gestern endete, für orthodoxe Maßstäbe unspektakulär, die Große Fastenzeit. Die nun bevorstehenden Tage sind nicht mehr der Buße und der meditativen Vorbereitung auf das Osterfest, sondern den jeweiligen heilsgeschichtlich relevanten Ereignissen aus dem Evangelium gewidmet. So ist die Auferweckung des Lazarus nicht bloß eine „Generalprobe“ für das Osterfest, sondern die Bekräftigung dessen, dass der Herr Jesus Christus in Wahrheit Derjenige ist, Welcher die Macht über Leben und Tod in Seinen Händen hält. Er zeigt uns durch die Erweckung des Lazarus, dass durch Seine nun bald bevorstehende Überwindung der Todesgewalt durch die Herrlichkeit des Vaters „auch wir als neue Menschen leben“ werden (Röm. 6: 4).
Erinnern wir uns: Lazarus ist schon der dritte uns bekannte Fall einer Auferweckung von den Toten durch unseren Herrn Jesus Christus. Aber die vorangegangenen beiden Fälle unterscheiden sich sowohl von ihrer Dimension (wenn das überhaupt möglich ist bei der Auferweckung von Toten!), als auch von den äußeren Umständen her. Die ersten beiden Wunder geschahen quasi „nebenbei“ (man sehe mir gütigerweise diese Ausdrucksweise nach; die Rede ist von den Maßstäben der göttlichen Allmacht!). Die Auferweckung der Tochter des Jairus geschah im Rahmen eines Doppelwunders (s. Mt. 9: 18-26; Mk. 5: 21-43; Lk. 8: 40-56). Hier war der Herr wegen der „unvorhergesehenen“ Heilung der blutflüssigen Frau (s. Mt. 9: 20-22; Mk. 5: 25-34; Lk. 8: 43-48) aus irdischer Sicht „verspätet“ im Hause des Synagogenvorstehers eingetroffen und nun genötigt, das gerade erst verstorbene Mädchen, das Er eigentlich heilen wollte, zurück ins Leben zu rufen. Es ging dem Herrn vermutlich um die Festigung des allgemeinen Glaubens der Menschen an die Allmacht Gottes (s. Mk. 5: 36; Lk. 8: 50), aber wohl noch nicht um mehr. Deshalb spielt der Herr das Geschehene herunter (s. Mt. 9: 24; Mk. 5: 39; Lk. 8: 52), woraus wir sehen, dass Ihm hierbei tatsächlich nur etwas an der Linderung menschlichen Leides lag, nicht an einer Demonstration göttlicher Macht. Deshalb wohl auch die (allerdings vergebliche) Verpflichtung aller Anwesenden zur Geheimhaltung (s. Mk. 5: 43; Lk. 8: 56). Das Geringreden der Auferweckung des Mädchens fiel dem Herrn hier noch relativ leicht, da der Körper noch warm war. Auch die Auferweckung des einzigen Sohnes der Witwe von Nain (Lk. 7: 11-17) geschah, menschlich gesprochen, „außerplanmäßig“. Aber hier waren die Bewohner einer ganzen Stadt Zeugen der Auferweckung, die der „zufällig“ vorbeigehende Herr aus Mitleid gegenüber der armen Mutter geschehen ließ (s. 7: 13). Hier hätte es keinen Sinn gehabt, den Tatbestand des Todeseintritts zu leugnen oder die Leute zum Stillschweigen zu verpflichten, da der Junge öffentlich zu Grabe getragen (also „amtlich“ für tot erklärt) worden war. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang zudem die Tatsache, dass diese Auferweckung eines Toten nur von einem Evangelisten überliefert wurde.
Einen echten „Vorsatz“ erkennen wir dagegen bei der von langer Hand vorbereiteten Wiedererweckung des Lazarus, von der schon die ganze Vorgeschichte Bände spricht. Christus erhält die Nachricht von der Erkrankung Seines Freundes und spricht darauf hin seltsame Worte: „Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden“ (Joh. 11: 4). Jedenfalls macht der Herr noch keine Anstalten, sich in Richtung Betanien zu begeben, bleibt stattdessen „noch zwei Tage an dem Ort, wo Er Sich aufhielt“ (11: 6). Kurzum, erst muss Lazarus tot sein, so dass bei der Ankunft Christi unter Berücksichtigung der Reisezeit sein Leichnam schon der Verwesung anheimgefallen sein muss. Und wieder spricht der Herr, wie bei der Tochter des Synagogenvorstehers, nur davon, dass „Lazarus, unser Freund, schläft“ (11: 11), womit ausgedrückt werden soll, dass es mit Ihm keinen Tod gibt. Lediglich als Konzession an das Unverständnis der überforderten Jünger „korrigiert“ Sich der Herr danach, sagt unumwunden: „Lazarus ist gestorben“ (11: 14). Da sie es begriffen haben, ist die Zeit nun gekommen, Seine göttliche Macht gegenüber den Jüngern und der Welt zu offenbaren (s. 11: 15). - Welch eine Lehre für uns, auch unsere Gott gefälligen Werke erst dann zu vollbringen bzw. zu offenbaren, wenn die Zeit dafür nach Gottes Willen gekommen ist!..
Am Grab angekommen, zeigt der Gebieter über Leben und Tod menschliche Regung (11: 33), und das nur wenige Augenblicke bevor Er Lazarus aus dem Grabe auferweckt haben wird. Eigentlich unverständlich, oder? - Aber diese Tränen der Bestürzung und Erschütterung haben eine unendlich größere Bedeutung, als das Mitleid mit den Eltern der zuvor auferweckten Kinder oder das natürliche Mitgefühl jetzt gegenüber den beiden Schwestern des Verstorbenen. Hier geht es um die ganze Menschheit vor dem Angesicht der Schrecken des Todes. Bei Lazarus hat nicht nur schon der Verwesungsprozess des Körpers eingesetzt (s. 11: 39), - unendlich mehr noch, - seine Seele ist schon vier Tage in der Gewalt des Teufels, denn noch ist dessen Macht ungebrochen. Die beiden Kinder standen zuvor mit der Seele nur an der Schwelle zum Tod, und als noch relativ unschuldige Wesen gab es für sie wohl noch nicht dieselben Qualen, wie für mündige Erwachsene. Lazarus ist aber in der vollen Gewalt des Todes, und der Herr empfindet mit ihm und der gesamten Menschheit den ganzen Schrecken der Folgen der Trennung von Gott!..
Protopresbyter Alexander Schmemann (+ 1983) fügt bei der Erläuterung dieser bewegenden Szene hinzu, dass die Menschheit bis zur Überwindung des Todes durch Christus bemüht war, den Tod psychologisch zu „überlisten“. In der griechischen Metaphysik war die unsterbliche Seele zur buchstäblichen Einverleibung in die als minderwertig angesehene Materie verdammt, so dass der Tod die ersehnte Befreiung aus dieser Umklammerung suggerieren sollte. Das dualistische platonische Weltbild sah ja in der Seele die Schöpfung des „Guten“, während die Entstehung des Leibes auf das „Böse“ zurückzuführen war, weshalb eine Rettung der gesamten menschlichen Natur in diesem Wertesystem nicht einmal theoretisch denkbar war. Die Verkündigung der leiblichen Auferstehung kam für die antike zivilisierte Welt demnach einem Affront gleich (s. Apg. 17: 32; vgl. 1. Kor. 1: 18-31). Doch die Heilige Schrift ist eindeutig: alles, was Gott gemacht hatte war doch „sehr gut“ (Gen. 1: 31), also auch und vor allem der Körper des Menschen, da der Mensch in sich das Abbild Gottes trägt und als „Krone der Schöpfung“ erachtet wird. Und der Menschensohn kam, um den einheitlichen Menschen zu erretten, weshalb Er auch dessen ganze Natur annahm (s. Phil. 2: 7). Nur so konnte Er Selbst den Tod kosten und die menschliche Natur kraft Seiner göttlichen Natur von den Folgen des Sündenfalls befreien.
Wir sehen also, dass Christus vor dem noch verschlossenen Grab des Lazarus den ganzen Schrecken des Todes vor Augen hat. Er macht deutlich, dass der Tod eine furchtbare Realität ist. Deshalb auch die drastischen Worte während unserer kirchlichen Begräbnisfeier, die den Tod als erschreckend reale Gegebenheit und nicht als bloße Sinnestäuschung darstellt (z.B. wird die sterbliche Hülle als „der Würmer Fras“, „entblößte Knochen“ und „Gestank“ bezeichnet). Anders als die Kinder „dieser Welt“ verdrängen orthodoxe Christen nicht den Gedanken an den Tod, sondern machen ihn bzw. die Vorbereitung auf ihn zum Hauptbestandteil ihres Lebens. Ja, der Tod ist schrecklich! Aber die Frohe Botschaft verkündet uns heute schon, gut eine Woche vor der entgültigen Vernichtung der Todesgewalt: Christus hat den Tod überwunden! Der Tod ist zwar im biologischen Sinne immer noch real, aber jetzt gehört ihm nur noch das vorletzte Wort. „Wenn sich aber dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: ´Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?`“ (1. Kor. 15: 54-55; vgl. Jes. 25: 8; Hos. 13: 14).
Die Heilige Schrift ist das unanfechtbare Wort Gottes, das uns freilich in der heutigen Vorschau auf Ostern durch Taten zeigt, dass „wir für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus“ (Rom: 6: 11).
Amen.