Predigt zum 4. Herrentag nach Ostern / vom aufgerichteten Gelähmten (Apg. 9:32-42; Joh. 5:1-15) (07.05.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
in Gedanken begeben wir uns mal in die Zeit des Herrn und stehen am Teich Betesda, der sich (auch heute noch) am Schaftor in Jerusalem befindet. Dort liegen hunderte von Kranken, Blinden, Lahmen und Verkrüppelten, die auf das Aufwallen des Wassers warten, denn von Zeit zu Zeit kommt ein Engel des Herrn vom Himmel herab und bringt das Wasser in Wallung; der Erste, der danach ins Wasser steigt, wird geheilt, mit welcher Krankheit er auch behaftet gewesen war. Die Folge davon ist, dass jeder natürlich der Erste sein will...
Die heutige Lesung aus dem Evangelium nach Johannes markiert wieder ein weiteres Etappenziel auf unserem Weg von Ostern zu Pfingsten, denn der Teich Betesda ist ein allegorisches Ebenbild der Kirche, welcher das Taufbad, in dem wir alle von unseren seelischen Gebrechen geheilt werden, symbolisch darstellt. Allerdings ist diese Gnade heute jederzeit und grundsätzlich jedem Menschen zugänglich, so dass sich keiner vordrängeln muss, um sicher an die Reihe zu kommen. Und Wunder Gottes, die in schöner Regelmäßigkeit stattfinden, gibt es auch heute noch vor allem (aber nicht nur) im Heiligen Land – aber wen kümmert das schon in unserer zeitgenössischen aufgeklärten Gesellschaft?!..
Zurück zum Teich Betesda. Es bedarf keiner allzu blühenden Phantasie, um sich die hygienischen Zustände, die dort rund um den Teich herum angesichts eitriger Wunden, beißenden Geruchs von Erbrochenem, Fäkalien und Urin herrschten, vorzustellen. Dazu das Stöhnen der Kranken und der ständige Kampf um die beste Ausgangsposition für den Moment, wenn es wieder losgeht. Es ist, ja, in doppelter Hinsicht ein Spiegelbild der Kirche.
1. Einerseits offenbart die besagte prosaische humanitäre Lage am Schaftor die Erbärmlichkeit unserer von Sünden geplagten Seelen. Bildhaft erkennen wir aber, dass der Herr Jesus Christus zu uns herabkommt, dass es Ihn vor unseren faulenden und übelriechenden Wunden nicht ekelt, denn „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern Er entäußerte Sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; Er erniedrigte Sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil. 2:6-8). So sehr liebt der Herr des Alls Seine Kreatur, dass Er deren gefallene Natur annahm und – obwohl Selbst sündlos – sogar für deren Sünden den Tod kostete! Die Erkenntnis daraus ist: Gottes Gnade ist uns zu unserem Heil gegeben. Gott ist trotz bzw. angesichts unserer ekelerregenden Sündhaftigkeit in Seiner Liebe bereit, uns von diesen Gebrechen zu heilen.
2. Andererseits erkennen wir aber ein anderes Merkmal, das hier bildhaft den Zustand der menschlichen Seelen offenbart. Die aussichtslose Lage des seit 38 Jahren Gelähmten (s. Joh. 5:7) zeigt auf ausgesprochen plastische Weise, dass die Menschen untereinander keine Liebe und kein Mitgefühl haben. Gott schenkt reichlich Seine Gnade, aber was machen die Menschen?! Hätte man denn nicht eine „Warteliste“ einführen können, die eine geordnete Reihenfolge nach Krankheitsgrad bzw. Dauer der Erkrankung geregelt hätte? Stattdessen herrscht Egoismus pur. Die Schwachen und Mittellosen bleiben, wie so oft, auf der Strecke. Und so zerstört der Mangel an Nächstenliebe den Gabenreichtum Gottes in der Kirche! Was für eine Katastrophe, was für eine Verschmähung der aufopferungsvollen Liebe Gottes!.. Stellen Sie sich mal vor, bei uns bricht in der vollbesetzten Kirche mitten im Gottesdienst ein Brand aus... Wenn sich im Falle einer Massenpanik alle gleichzeitig, jeder so schnell er kann, zur einzigen Tür stürzen, wird es dort zu einem furchtbaren Gedränge kommen – einige werden erdrückt, einige zu Tode getrampelt, und vermutlich wird sich überhaupt keiner retten können, weil sich zwanzig Leute nicht gleichzeitig durch eine enge Tür zwängen können. Wenn aber, umgekehrt, Liebe und Fürsorge unter uns herrschen, werden wir zügig aber in aller Ruhe zuerst die Mütter mit den Kindern herausbringen, dann werden die jungen und gesunden Gemeindeglieder den älteren und gebrechlichen unter die Arme greifen und diese unbeschadet zum Ausgang geleiten, und schließlich werden sich alle uneigennützigen Retter selbst nach und nach in Sicherheit bringen können. Na ja, und wenn dann das lichterloh brennende Dach der Kirche just in dem Moment einstürzt, in dem der Priester die Kirche als letzter verlassen will, dann ist es halt so.
Die Lektion aus dem Gesagten: Gott schenkt uns in Fülle Seine Gaben, aber wir alle müssen uns dieser unendlichen Gnade dadurch als würdig erweisen, dass wir füreinander da sind und der Errettung unserer Nächsten dienstbar sind. Die dazu vergleichsweise mickrigen Kränkungen und Beschimpfungen, die wir von Zeit zu Zeit erdulden dürfen, sollen deshalb ein Quell der Freude statt der Betrübnis sein (s. Mt. 5:10-12). So war es und so ist es noch heute bei den Mönchen und Nonnen, die Schmähungen als großes Geschenk empfinden, das ihnen als Arznei zur Heilung ihrer eigenen Verfehlungen herabgesandt wird. Und warum nicht auch bei uns? Verehren wir nicht solche Heilige, wie unseren Gemeindepatron, den seligen Isidor von Rostow und Brandenburg? Die Narren um Christi willen provozierten förmlich Prügel, Verfolgung, Demütigung, Hohn und Spott von ihren Mitmenschen, welche sie als Wohltäter ihrer Seelen ansahen und für deren Seelenheil sie im Gegenzug immerzu beteten. Wie uns der heilige Gregor von Nyssa lehrt, sollen wir niemals Menschen hassen und stattdessen nur gegen die Dämonen Feindschaft zu hegen. Der Mensch kann ja ohnehin nicht ohne Gott gerettet werden, aber Gott hat es auch so eingerichtet, dass Er den Menschen nicht ohne den Menschen rettet. Gott benötigt uns alle als Seine Mitarbeiter in höchst verantwortungsvoller Stellung (s. 1 Kor. 3:9). Amen.