Predigt zum 4. Herrentag nach Ostern / vom aufgerichteten Gelähmten (Apg. 9: 32-42; Joh. 5: 1-15) (19.05.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute wird uns wieder der aufgerichtete Gelähmte am Teich Betesda neben dem Schafstor in Jerusalem, den unser Herr demonstrativ am Sabbat heilt, beschäftigen, damit alle begreifen, dass der Menschensohn als Gesetzgeber dem Gesetz nicht untersteht, sondern ganz selbstverständlich auch „Herr über den Sabbat“ ist (s. Mt. 12:8; Mk. 2:28; Lk. 6:5).
Anders als den Pharisäern und Schriftgelehrten geht es uns auch gar nicht um das Gesetz, d.h. um die Treue zu äußeren Vorschriften – darum geht es uns praktisch nie, denn durch Christus sind wir „frei geworden von dem Gesetz, an das wir gebunden waren, wir sind tot für das Gesetz in der neuen Wirklichkeit des Geistes, nicht mehr in der alten des Buchstabens“ (Röm. 7:6). Darum wollen wir uns auch die heute dargebotene Erzählung „durch den Geist, nicht durch den Buchstaben“ (Röm. 2:29) veranschaulichen.
Mit unserem geistigen Augen erblicken wir einen Mann, der seit 38 Jahren gelähmt ist. Dieser Unglückliche hat keinen, der ihm hilft (s. Joh. 5:7). Seine Hilflosigkeit steht sinnbildlich für unsere Ohnmacht in Bezug auf unser Seelenheil. Wir können uns auch noch so sehr anstrengen und von ganzer Kraft versuchen, nach Gottes Geboten zu leben, trotz alledem werden wir allein von uns aus niemals die Gesundung unserer Seele erwirken können. Niemals! ... Bis zur Ankunft Christi hatten auch wir „keinen Menschen“, der uns helfen konnte, vor Gott die Rechtfertigung zu erlangen. Es ist auch wahrlich nicht in der Macht des Menschen, hieran etwas zu ändern. Zu schwerwiegend ist die Krankheit unserer Seele infolge der Übertretungen, zu beträchtlich ist das Ausmaß unserer Entfremdung von Gott. Menschliche Macht entbehrt aller Möglichkeit, hier zu helfen. Doch nun ist die Zeitenwende eingetreten, „die Veränderung der Rechten des Höchsten“ (Ps. 76:11). Durch die Geburt „aus Wasser und Geist“ werden wir zu Teilhabern der Gnade des Heilgen Geistes und können so „in das Reich Gottes kommen“ (Joh. 3:5). Insofern ist es kein belangloser Begleitumstand, sondern ein Fingerzeig Gottes, dass die wundersame Heilung des Gelähmten am Wasserteich (!) vonstatten geht. Also besteht der Sinn des Lebens in der Erlangung der Gnade des Heiligen Geistes. Alle übrigen Werke – auch hehre und ehrenwerte – vermögen nicht die Wiedergeburt der Seele zu bewirken und versetzen uns nicht in die Lage, das Himmelreich zu sehen (s. Joh. 3:3). Sonst hätte Gottes Sohn nicht die menschliche Natur annehmen, am Kreuze sterben, auferstehen, in den Himmel fahren und auf uns den Heiligen Geist herab senden brauchen. Unsere humanistische Gesinnung würde doch genügen, um uns das Himmelreich wieder zu erschließen...
Also sind wir uns einig, dass ohne die Gnade des Heiligen Geistes, deren Kommen uns die Kirche in dieser durch ihre geistliche Tiefe einmaligen Zeit zwischen Ostern und Pfingsten ankündigt, Christus in mir nicht leben (s. Gal. 2:20) kann?! Gleichwohl, gute Werke sind Gott genehm, wenn sie als Ergebnis der besagten Wiedergeburt quasi als Gradmesser für die Wirksamkeit der empfangenen Gnade dienen (s. Gal. 6:8-10). Doch über allem steht das Bestreben nach der Erlangung der Gnade des Heiligen Geistes. Diese wird nicht von einem Zufallsgenerator verteilt, sondern muss durch menschliches Bemühen erwirkt werden. Es ist zu einfach, bloß zu sagen: „Halleluia! - und schon bin ich gerettet!“ - Den Geist erlangen können wir nur durch gewaltige Anstrengung (s. Mt. 11:12), die in uns die entsprechende Geisteshaltung bewirkt, denn „wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu Ihm“ (Röm. 8:9). Christus sagt von Sich: „Nehmt euer Joch auf euch und lernt von Mir, denn Ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele“ (Mt. 11:29). Ohne das leichte Joch Christi wird es aber nur den Kampf um irdische Gerechtigkeit, um vom menschlichen Denken definierte Ideale gehen können, wobei jedoch die Menschen niemals „Ruhe für ihre Seele“ finden werden.
Der Schlüssel für unser Heil liegt also nicht in einem „Automatismus der Gnade“, sondern in der nachhaltigen und tiefgreifenden Erkenntnis, dass wir es nicht verdienen, vor Gott Erbarmen zu finden! Ein Anrecht auf Erlösung besteht ob der Vielzahl unserer Verfehlungen nicht. Wir sind und bleiben Gottes Schuldner, nicht umgekehrt (vgl. Mt. 18:24). Die Demut des Herzens nach Christi Vorbild besteht demnach im aufrichtigen Eingeständnis, dass ich nichts habe, um meine Schuld vor dem Herrn zu begleichen (s. Mt. 18:25). Dann, ja dann darf ich hoffen, dass sich der Herr mir gegenüber gnädig erweist. Und ich weiß, dass der Herr mir diese Gnade auch tatsächlich erweisen will. Allerdings weiß ich genauso gut, dass der Herr mich kurz darauf auf die Probe stellen wird, damit ich erkennen möge – nicht der Herr, denn Er kennt die Herzen der Menschen ohnehin (s. Apg. 15:8) – inwieweit Anspruch und Wirklichkeit bei mir übereinstimmen (vgl. Mt. 18:28-30), sprich, ob ich Gottes Gnade nicht zu unrecht empfangen habe (s. 2 Kor. 6:1). Dass diese Option auch weiterhin Bestand hat, wird aus der heute vorgelesenen Erzählung deutlich: der soeben nach achtunddreißig Jahren von seinem Gebrechen Geheilte wird zum „Dank“ für die ihm erwiesene Gnade zum rückwärtsgewandten „Diener des Gesetzes“ und denunziert seinen Wohltäter dafür, dass Dieser ihn am Sabbat gesund gemacht hat (s. Joh. 5:15). Was soll man über solche Menschen sagen, die die Gnade Gottes in sich selbst verschmäht haben? - „Es wäre besser für sie, den Weg der Gerechtigkeit gar nicht erkannt zu haben als ihn erkannt zu haben und sich danach wieder von dem heiligen Gebot abzuwenden, das ihnen überliefert worden ist“ (2 Petr. 2:21). Seien wir also stets der Gnade eingedenk, die wir in den Mysterien der Kirche empfangen (haben)! Amen.