Predigt zum 36. Herrentag nach Pfingsten / Gedächtnis der Neuen Märtyrer und Bekenner Russlands (1. Tim. 1: 15-17; Röm. 8: 28-39; Lk. 18: 25-43; Lk. 21: 8-19) (07.02.2016)
Liebe Brüder und Schwestern,
die heutige Lesung aus dem Brief des Apostel Paulus an seinen Schüler Timotheus besteht zwar aus nur drei Versen, ist dafür aber umso inhaltsvoller: „Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als erstem Seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an Ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen. Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen“ (1. Tim. 1: 15-17).
Ein fanatischer Christenverfolger hat „Erbarmen gefunden“! An ihm konnte Christus „als erstem Seine ganze Langmut beweisen“, und zwar „zum Vorbild für alle, die in Zukunft an Ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen“. Daraus folgt, dass wir errettet werden können, wenn wir uns selbst solcherart als größte Sünder von allen sehen. Einen anderen Weg, Gnade in den Augen des Herrn zu finden, gibt es für uns nicht. Ohne die Gnade sind auch wir verloren. Und wenn Saulus, durch die Gnade erleuchtet, zu Paulus wurde, warum sollte es heute nicht möglich sein, dass sich die erbittertsten Feinde Christi zum wahren Glauben bekehren ließen?! Gott kann das enorme negative Potenzial, mit dem gegenwärtig fanatische Selbstmordattentäter oder liberale Gotteslästerer versuchen, „gegen den Stachel auszuschlagen“ (vgl. Apg. 9: 5)*), in positive Energie umwandeln (quasi nur die Vorzeichen ändern: „+“ statt „-“).
In Russland begannen vor knapp einem Jahrhundert die an Umfang und Intensität grausamsten Christenverfolgungen aller Zeiten. Heute können wir dort die langsame aber stetige Wiedergeburt der Orthodoxie erleben. Dieses Beispiel lehrt, dass sich der Glaube gerade da am Ende durchsetzt, wo die Widerstände am größten sind. Gottes Gnade und Weisheit sind ja keine Grenzen gesetzt. Je größer der gottgefällige Eifer in uns Christen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die jetzigen Feinde Christi ebenfalls „Erbarmen finden“ werden. Nur sind wir angehalten, selbige zu lieben, sie zu segnen, für sie zu beten und ihnen Gutes tun (s. Mt. 5: 44; Lk. 6: 27, 35; Röm. 12: 20). Der ist mein Feind, welcher sich Christus (aktiv) widersetzt – und doch soll ich ihn lieben! Ein Heiliger sagte mal: „Selbst wenn er dir dein Auge ausreißen oder dir den Arm abschlagen sollte, darfst du ihn deshalb nicht hassen“. Nur wer mich von Christus abbringen will, ist wirklich mein Feind. Aber „was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? (…) Doch all das überwinden wir durch Den, Der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm. 8: 35, 37-39). Wenn wir ihnen mit Hass und Gewalt begegnen, werden wir sie bestenfalls militärisch besiegen und politisch unterwerfen, aber niemals ihre Herzen gewinnen können. Wäre Christus damit gedient?.. Natürlich können wir nicht gänzlich auf die staatlichen Schutzmechanismen verzichten (s. Röm. 13: 1-7) - wir beten doch schließlich für Regierung und Armee (s. 1. Tim. 2: 1-4) - nur sollen wir uns nicht ausschließlich und vornehmlich auf irdische Institutionen verlassen (s. Ps. 117: 9 u. 145: 3). Sie sind dazu da, damit wir „in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter; Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1. Tim. 2: 3-4).
Gott hat Seinen Dienern einiges anvertraut (s. Lk. 12: 48). Deshalb möchte ich am Gedenktag der Leidensdulder an unsere ganze Gemeinde appellieren, sich ihrer Verantwortung als Glieder am Leib Christi bewusst zu werden. Niemand hat sich doch unserer Gemeinde angeschlossen, weil ihre Mitglieder allesamt engelsgleiche Wesen wären. Wer sich der Kirche anschließt, tut dies im ungezwungenen Bekenntnis, dass dies „die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche“ ist. Wie kann es dann sein, dass sich manche dann wieder abwenden, sobald sie feststellen, dass ihre Mitglieder auch nur Menschen sind, die ihre Fehler haben und zuweilen Sünden begehen?!.. „Es wäre besser für sie, den Weg der Gerechtigkeit gar nicht erkannt zu haben, als ihn erkannt zu haben und und sich danach wieder von dem heiligen Gebot abzuwenden, das ihnen überliefert worden ist“ (2. Petr. 2: 21). Die im Text folgende Metapher möchte ich uns lieber ersparen, nicht aber das: „Als Mitarbeiter Gottes ermahnen wir euch, dass ihr Seine Gnade nicht vergebens empfangt“ (2. Kor. 6: 1).
Der Blinde vor den Toren Jerichos wollte anfangs nur sein Augenlicht wiederhaben (s. Lk. 18: 41). Doch offenbarte er zur Erlangung dieses Zieles genug Kampfeswillen, um vom Herrn erhört zu werden (s. 18: 39). Und als er wieder sehend wurde, „pries er Gott und folgte Jesus“ (18: 43). Für ihn war die erste persönliche Begegnung mit dem Erlöser ein sichtbares Gnadengeschenk, für das er sich nachträglich durch seine Treue dankbar erwiesen hat. Wie schön wäre es doch, wenn wir alle diesem Vorbild nacheifern würden! Es wäre unser Beitrag dazu, dass sich die gewaltsame Zerstörung einer tausendjährigen christlichen Zivilisation, wie sie sich voriges Jahrhundert infolge massenhafter Treulosigkeit ereignet hat, nicht auch in Westeuropa wiederholt. Amen.
*) In den meisten deutschen Übersetzungen fehlt dieser Zusatz zu Apg. 9: 5. In der Orthodox Study Bible steht: „It is hard for you to kick against the goads“, in der Synodalübersetzung: „Трудно тебе идти против рожна“, und in der Neuen Genfer Übersetzung heißt es: „Es wird dir schwer sein, gegen den Stachel auszuschlagen“.