Predigt zum Herrentag des Zöllners und des Pharisäers / Synaxis der Neuen Martyrer und Bekenner Russlands (2. Tim. 3: 10-15; Röm. 8: 28-39; Lk. 18: 10-14; 21: 8-19) (09.02.2014)
Liebe Brüder und Schwestern,
als Grundlage für unsere geistliche Erbauung in der zweiten Vorbereitungswoche der Großen Fastenzeit dient heute das Gleichnis vom Zöllner und vom Pharisäer, das ebenfalls nur der Evangelist Lukas für uns aufgeschrieben hat – genauso, wie die Geschichte der letzten Woche vom bekehrten Oberzöllner Zachäus, wie auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn, mit dem wir uns nächste Woche befassen wollen. Das Symbol für das Evangelium des Lukas ist bekanntlich der Stier – das Opfertier des alttestamentlichen Kultes. Hierdurch wird angedeutet, dass der Evangelist Lukas die priesterliche Funktion des Messias besonders hervorhebt. Erinnern wir uns: das Lukas-Evangelium beginnt mit dem „Priester namens Zacharias, der zur Priesterklasse Abija gehörte“ (Lk. 1: 5). Ein Priester übt ja seine Funktion aus, indem er Opfer darbringt, um durch sie Gott in Bezug auf das Volk versöhnlich zu stimmen. In diesem Sinne ist unser Herr Jesus Christus „Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps. 109: 4; vgl. Hebr. 7: 21), Der das allerhöchste Opfer darbringt – Sich Selbst. Christus der Erlöser hat um unseres Heiles willen „mit lauten Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor Den gebracht, Der Ihn aus dem Tod retten konnte, und Er ist erhört und aus Seiner Angst befreit worden. Obwohl Er der Sohn war, hat Er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist Er für alle, die Ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr. 5: 7-10).
Unter diesem Gesichtspunkt der Versöhnung mit Gott (vgl. Röm. 5: 10-11; 2. Kor. 5: 18-20; Kol. 1: 19-22) sehen wir den priesterlichen Dienst Christi. Er, der wahre Hohepriester, gab uns zudem als Mittel der Versöhnung ein Gebet, das jeder Gläubige von kleinauf kennt und das unser aller Kindschaft zum Himmlischen Vater zum Ausdruck bringt (s. Mt. 6: 9-13). Dieses Gebet wird, gewissermaßen, vom „Gebet“ des Pharisäers aus dem heutigen Gleichnis konterkariert:
Hier heißt es: „Vater unser … unser tägliches Brot gib uns heute … vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern … führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Bösen“; - da heißt es hingegen: „ich danke Dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin … ich faste zweimal in der Woche, ich gebe dem Tempel den zehnten Teil meines Einkommens“.
Dieser Gegensatz kommt nicht von ungefähr. Der Pharisäer ist auf sich allein fixiert, auf seine gesellschaftliche Stellung, sein persönliches Wohlergehen. Andere Menschen sind ihm entweder gleichgültig oder dienen als Objekte der Erniedrigung und Zurechtweisung: „Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort“ (Lk. 18: 11). Fast könnte man meinen, das jüngste Gericht sei schon vorweggenommen, - so abschließend klingen diese Worte, da Einspruch oder Berufung in der pharisäischen Gedankenwelt nicht mehr vorzukommen scheinen. Gott wird gar nicht mehr gefragt, der Weltenrichter wird, im Grunde genommen, nicht mehr benötigt, denn das letztinstanzliche Urteil ist bereits „rechtskräftig“. Die Pharisäer dieser Welt sehen sich als höchstrichterliche Instanz, aber auch wir machen uns zu ihresgleichen, wenn wir gegen Gottes Gebot (s. Mt. 7: 1 und Lk. 6: 37) verstoßen und unsere Mitmenschen richten.
Gewiss betet der Zöllner auch in der Einzahl: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk. 18: 13), aber aus gutem Grund. Er steht, im doppelten Sinne, erst an der Schwelle zur Kirche, er wagt es nicht einmal einzutreten und seine Augen gen Himmel zu erheben (s. Lk. 18: 13). Der Pharisäer steht ganz vorne in der Ehrenloge, wohingegen der Zöllner es noch nicht einmal wagt, sich überhaupt dazugehörig zu fühlen. So sind unsere morgendlichen und abendlichen Bußgebete sowie die Gebete zur Vorbereitung auf die Heilige Kommunion ja auch von heiligen Menschen im Singular verfasst, weil sie sich als Sünder vor Gott sahen. Unser zeitgenössisches Alibi-Beichten beginnt dagegen nicht selten so: „Ich bin ein Sünder, wie alle anderen“... Aha!.. Aber psychologisch ist das leicht zu erklären, denn wenn die ganze Kompanie versagt hat, ist es einfacher, seine persönliche Verfehlung zu kaschieren. Tests mit fingierten Verkehrsunfällen zeigen z.B., dass Autofahrer an einer viel befahrenen Bundessstrasse eher an blutüberströmten Opfern, die neben ihren umgekippten Autos liegen, vorbei fahren, als auf einer verlassenen Landstrasse – es sind ja genug andere zum Helfen da, und ich hab´s eilig...
Das heutige Gleichnis fügt sich nahtlos ein in die Reihe der anderen Beispiele zur Vorbereitung auf die Fastenzeit. Sie alle dokumentieren auf wunderbar schlichte und verständliche Art, wie sich Gottes Gerechtigkeit von der Gerechtigkeit der Menschen unterscheidet. Wie „logisch“ und „wahrheitsgemäß“ diese menschliche Gerechtigkeit auch formuliert wird, Gott belibt niemals eine Antwort schuldig. Die menschliche Gerechtigkeit sagte vor Wochenfrist bei Zachäus: „Er ist bei einem Sünder eingekehrt“ (Lk. 19: 7); heute sagt sie: „Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines Einkommens“ (Lk. 18: 12); nächste Woche wird sie sagen: „So viele Jahre diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet“ (Lk. 15: 29-30). In allen diesen Fällen können wir nicht umhin festzustellen, dass die Leute in Jericho, der Pharisäer im Tempel sowie der ältere Bruder des verlorenen Sohnes nach menschlichen Gesichtspunkten recht haben! Und wer von uns wird behaupten können, dass er in vergleichbaren Situationen nicht selbst gemäß dieser menschlichen Gerechtigkeit denkt und handelt?!..
Unsere Sorge muss demnach zu allen Zeiten sein, uns das Streben nach Gottes Gerechtigkeit anzueignen. Das ist nur mit unseren Mitmenschen möglich, niemals aber ohne sie oder gegen sie. „Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1. Joh. 4: 21). Die menschliche Gerechtigkeit übersieht jedoch allzu gerne, dass Gott nichts an der Befriedigung unseres Gerechtigkeitsgefühls gelegen ist, dafür umso mehr an der Errettung der Sünder.
Deshalb lautet Gottes dreifache Antwort auf die in besagten Beispielen dargestellte menschliche (Selbst-)Gerechtigkeit:
- „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist“ (Lk. 19: 9).
- „Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht“ (Lk. 18: 14).
- „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“ (Lk. 15: 31-32).
Um jegliche Fehlentwicklung wie die des Pharisäers von vornherein zu vermeiden, wird uns die Kirche in den näher kommenden heiligen Wochen das kurze Gebet des hl. Ephrem des Syrers zum täglichen Gebrauch quasi als Richtschnur für unseren geistlichen Zustand auf den Weg geben. Es gehört, sozusagen, von kleinauf zur Grundausstattung eines orthodoxen Christen, weil es uns lehrt, verstärkt auf unseren eigenen Seelenzustand zu achten, den Mitmenschen nicht zu richten, ihn nicht mit Gewalt nach unseren Kriterien umbiegen zu wollen und, vor allem, unsere eigenen Sünden zu erkennen. Amen.