Predigt zum 25. Herrentag nach Pfingsten / Hochfest des Tempelgang der Allerheiligsten Gottesgebärerin (Hebr. 4:1-6; Hebr. 9:1-7; Lk. 12:16-21; Lk. 10:38-42; 11:27-28) (04.12.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
1. In der regulären Lesung des heutigen Herrentages erzählt der Herr von einem reichen Mann, der sich über große Erträge auf seinen Feldern freut und praktisch all seine Schaffenskraft darauf verwendet, all diese Güter sachgemäß lagern zu können. Er beschließt, seine alten Scheunen abzureißen und neue, größere zu errichten, die seine Vorräte aufnehmen können, damit er von nun an ein unbekümmertes Leben führen könne. Eine Haltung, die aus der Perspektive dieser Welt als vollkommen nachvollziehbar und folgerichtig anerkannt ist. Aber aus Gottes Sicht ist diese Lebenseinstellung tödlich. Gott spricht zu ihm: „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?“ (Lk. 12:20). Und der Herr beendet dieses Gleichnis mit der Warnung: „So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist“ (12:21).
Sehr oft beobachten wir in den Gleichnissen und sonstigen Reden des Herrn, dass Er nicht an erster Stelle die für alle erkennbaren Sünden der Menschen anprangert. Wenn Er ausgemachte Sünder erwähnt (den Zöllner, die Buhlerin, den verlorenen Sohn u.v.a.), dann mit dem Ziel, aus Liebe zu den Verirrten die alles verzeihende Güte Gottes hervorzuheben (s. Lk. 15:10). Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch das Evangelium, dass nicht die Vielzahl oder die Schwere der Sünden das größte Hindernis auf dem Weg zu Gott ist, sondern die falsche Selbstsicherheit. Wir erkennen das in den anklagenden Worten gegen die selbstgefälligen Schriftgelehrten und Pharisäer (s. Mt. 23:1-36; Mk. 12:38-40; Lk. 12:39-52; 20:45-47) und gegen die vor Überheblichkeit strotzenden galiläischen Städte (s. Mt. 11:20-24; Lk. 10:12-15), aber auch, wie im vorliegenden Beispiel erkennbar, an selbstsüchtigen Reichen, die scheinbar keine schweren Sünden begehen, und doch vor Gott nicht gerechtfertigt sind (vgl. Lk. 16:26-25). Alle Bosheiten und Verfehlungen der Menschen zusammen genommen sind wie ein Tropfen im Ozean der Liebe Gottes – wenn die Menschen das Allheilmittel der Buße erkennen. Denn: „Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten“ (Lk. 5:32; vgl. Mt. 9:13; Mk. 2:17), spricht der Herr. Die schlimmste Sünde vor Gott ist demnach das Nichterkennen seiner Sündhaftigkeit. Dazu muss man kein Straftäter oder Sittenstrolch sein. Aber für das Seelenheil ist es eminent wichtig, die Lüge von der Wahrheit unterscheiden zu können (s. 1 Joh. 4:1-6). Wenn wir uns mit dem Geist und den Gepflogenheiten dieser Welt vermengen und unser Augenmerk ausschließlich auf das irdische Wohlergehen richten, können wir nicht vor Gott reich sein (s.o. Lk. 12:21). Überhaupt kann nur der die Wahrheit von der Lüge unterscheiden, der ein reines Herz (s. Mt. 5:8) und einen von der Gnade Gottes erleuchteten Verstand hat. Dabei hilft ein Leben nach den Geboten: „Ein Ohr, das auf heilsame Mahnungen hört, hält sich unter den Weisen auf. Wer Zucht abweist, verachtet sich selbst; wer aber auf Mahnungen hört, erwirbt Verstand“ (Spr. 15:31-32). Die aber, welche sich weigern, Gottes Willen anzuerkennen, werden einem verworfenen Denken ausgeliefert, so dass sie tun, was sich nicht gehört (s. Röm. 1:28). Gott bewahre uns alle davor!
2. Wie aus den festlichen Hymnen hervorgeht, ist die Einführung der dreijährigen Theotokos in den Tempel die Ankündigung unseres Heils, nicht schon unsere Erlösung selbst. Das ist im übrigen auch nicht die Geburt oder die Taufe Christi, nicht einmal Seine Auferstehung, da selbst diese ohne die Himmelfahrt des Herrn und die Niedersendung des Heiligen Geistes nicht vollständig bzw. für uns nicht erreichbar gewesen wäre. Nur zusammengefasst im Kirchenjahr stellen diese heilbringenden Ereignisse eine vollkommene Einheit dar. Aber welchen (theo-)logischen Sinn hat die Ankündigung unserer Errettung im Einzug der künftigen Gottesgebärerin in den Tempel? Chronologisch wird auf die sich bald zu ereignende Menschwerdung Gottes aus der Allerheiligsten Jungfrau hingedeutet, was in dieser Vorbereitungszeit auf die Geburt Christi liturgisch auch dadurch zum Tragen kommt, dass von diesem Tag an die weihnachtliche Katavasia im Orthros gesungen wird (Irmos am Ende der ersten Ode: „Christus wird geboren – lobpreist Ihn!“).
Diese Ankündigung des Heils betrachten wir aber bereits auch in der Person der Gottesgebärerin selbst. Aus Ihr wird der „Letzte Adam“ hervorgehen, Der uns „irdische Lebewesen“ mit dem „lebendig machenden Geist“ vereinen wird (s. 1 Kor. 15:45). Durch Ihn werden wir zum Neuen Menschen in Christus, zur „neuen Schöpfung“ (s. 2 Kor. 5:17; Gal. 6:15). „Der Erste Adam (=Mensch) stammt von der Erde und ist Erde, der Zweite Adam stammt vom Himmel“ (1 Kor. 15:47). Nur in Christus und nur in Seiner Kirche gibt es die Vereinigung von Gott und Mensch, die als Unterpfand zur Erlangung des Himmelreichs und des ewigen Lebens dient. Aber die Einführung des dreijährigen Sprosses von heiligen Eltern sowie deren heiliger Vorfahren in den Tempel Gottes war die Voraussetzung dazu. Durch Ihre himmlische Reinheit hat Maria „bei Gott Gnade gefunden“ (Lk. 1:30). Sichtbares Zeichen dafür ist die vom Heiligen Geist geleitete Einführung in das Allerheiligste des Tempels (s. Lev. 16:2; Hebr. 9:7) – ein Zeichen, das auch die Engel in Staunen versetzte (s. Magnifikat-Vers der 9. Ode d. Kanons). Und das ist nun wirklich eine mystische Vorankündigung unseres Heils in der Erneuerung unserer gefallenen Natur durch den Zweiten Adam, Der Seine menschliche Natur aus der unbefleckten Jungfrau nahm: „Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden“ (1 Kor. 5:49). Amen.