Predigt zum Herrentag vor Christi Geburt / Gedenktag der Heiligen Väter (Hebr. 11:9-10,17-23,32-40; Mt. 1:1-25) (01.01.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
jedes Jahr wird am Herrentag der Väter der „Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Mt. 1:1) verlesen, mit dem das Evangelium beginnt und die Heilige Schrift des Neuen Testaments ihren Anfang nimmt. Der Evangelist Matthäus verfasste seine Verkündigung noch in hebräischer Sprache für die gläubig gewordenen Judenchristen, weshalb wir bei ihm die Betonung auf die Abstammung des verheißenen Messias vom Gründer des Königreichs Israel und vom Stammvater der Juden wahrnehmen. Etwas anders sind die Akzente beim Evangelisten Lukas gelagert. Dieser stammte selbst aus der ersten Christengemeinde außerhalb Palästinas (s. Apg. 11:26) und schrieb sein Evangelium für die Juden und Proselyten der Diaspora in griechischer Sprache. Sein Schwerpunkt liegt auf der noch weiter gehenden Abstammung Jesu Christi von Adam und letztlich von Gott (s. Lk. 3:38). Der von ihm überlieferte Stammbaum, für den dem Gesetze nach die Auflistung der Vorfahren des „Vaters“ ausschlaggebend war, fokussiert sich demnach auf Christus als den Menschensohn, gekommen, um alle Menschen zu erretten (s. Joh. 3:14-16). Die Ahnenreihe bei Matthäus bezweckt folglich die Identifikation Christi mit dem Volk der Juden, diejenige bei Lukas hingegen mit der ganzen Menschheit. Wie wir aber wissen, kann sehr wohl auch Missbrauch mit der eigenen Herkunft betrieben werden (s. Mt. 3:9; Lk. 3:8; Joh. 8:30-47). Der Apostel Paulus verdeutlicht, dass für Abraham (und David) der wahre Glaube und die Treue ausschlaggebend waren, nicht ihre leibliche Zugehörigkeit zu Gottes Volk (s. Röm. 4:1-25). Dasselbe gilt für uns Christen. Pure kulturelle Identifikation mit der nationalen Tradition ist kein adäquater Ersatz für ein Leben nach der Gerechtigkeit Gottes. Deutlichstes Kriterium hierfür ist die Art und Weise wie, genauer, wofür das Weihnachtsfest begangen wird – zum Zwecke der Geselligkeit während der arbeitsfreien Tage, für Essen und Trinken im Kreise der Familie – oder zur Verherrlichung des Mensch gewordenen Gottes! Die Freiheit der Christen ermöglicht auch Erstgenanntes, aber nur als Begleiterscheinung des Letzteren und nicht als prioritärer Selbstzweck (s. 1 Kor. 6:12-14). Nur dann können wir sagen: „Gott ist mit uns“ (Mt. 1:22). Und „ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ (Röm. 8:31). Wir brauchen diesen Trost.
In der diesjährigen Weihnachtsausgabe der „Zeit“ ist auf der Titelseite ein Photo einer Schnitzerei zu sehen, die den heiligen Joseph mit dem Christkind darstellt. Rein visuell scheint dieses Bild dem festlichen Rahmen Genüge zu leisten. Doch wenn man den darunter stehenden Text liest, gerinnt einem das Blut in den Adern. Überschrift in dicken Lettern: „Josef – der erste moderne Vater“. Darunter in kleineren Fettbuchstaben: „Er zog das Kind eines anderen auf und bewahrte so seine Frau vor dem Tode – wer war dieser Mann?“...
Uns ist bewusst, dass immer mehr Leute mit der Religion fremdeln, ihre Kinder nicht mehr taufen lassen, wie es zur Zeit meiner Kindheit und Jugend noch die Regel war. Mit zunehmender Liberalisierung der Gesellschaft entzog sich die junge Generation dem elterlichen Einfluss und ging immer selbstbewusster ihre eigenen Wege. Aber das erklärt und rechtfertigt nicht den Kampf gegen den Glauben, wie er seit einigen Jahrzehnten in den Medien und in den Erziehungs- und Lehranstalten geführt wird. Vor zehn-zwanzig Jahren hatte man als Eltern von Kindern im Schulalter zu Hause lediglich damit zu kämpfen, dass wir alle von den Affen abstammen sollen. Heute wächst unser Nachwuchs mit unbegrenzter Freizügigkeit, Geschlechtervielfalt und alternativen Lebensmodellen auf. Regenbogenfamilien und Geschlechtsumwandlungen sind zur vollkommenen Normalität geworden. Man kann sich als Christ zwar niemals damit abfinden, hat sich aber längst daran gewöhnt. Und schließlich gibt es das Zitat von William Somerset Maugham (+ 1965): „Jede Generation lächelt über die Väter, lacht über die Großväter und bewundert die Großväter“.
Die Kirche hat es ja nicht zum ersten Mal mit einem Aufbegehren ihrer Feinde zu tun. Vor hundert Jahren dachten die Kommunisten in Russland anfangs auch, die zu „neuen Menschen“ um-erzogenen Bürger des Landes würden das „Opium für das Volk“ umgehend von alleine ablegen, doch als der gewünschte Erfolg der antireligiösen Propaganda auf sich warten ließ, ging man flugs zu Terrormaßnahmen gegen die Kirche und ihre Anhänger über. Und wir befinden uns in einer Situation, die vergleichbar ist mit der Lage der Kirche in der Sowjetunion Anfang der 1920-er Jahre. Dass die nächste Stufe der Eskalation folgen wird, kann eigentlich nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden. Wir müssen alle begreifen, dass hinter all dem eine Macht steht, die gerissen und völlig gewissenlos in der Wahl ihrer Mittel ist, eine Macht, die aber niemand sieht und die keiner bewusst wahrnimmt. Ihre Errungenschaft besteht ja gerade darin, dass es sie in den Augen ihrer willfährigen Werkzeuge gar nicht gibt. Und diese finstere Macht will von uns Gläubigen, dass wir uns fürchten, verzweifeln und den Mut verlieren. Doch was lesen wir heute im Hebräerbrief? Aufgrund des Glaubens nahmen die Vorgänger Christi unvorstellbare Drangsal auf sich (Hebr. 11:32-39); also können auch Seine Nachfolger immer an Den denken, Der „von den Sündern solchen Widerstand gegen Sich erduldet hat; dann werden wir nicht ermatten und den Mut nicht verlieren“ (Hebr. 12:3). Und zu guter Letzt: unser Glaube ist so alt wie die Menschheit selbst! Abraham und David waren alttestamentliche Christen wie vor ihnen Adam und Eva, die schon in der Erwartung des verheißenen Heilands (s. Gen. 3:15) lebten. „Sie haben das Verheißene nicht erlangt, weil Gott erst für uns etwas Besseres vorgesehen hatte; denn sie sollten nicht ohne uns vollendet werden“ (Hebr. 11:40). Amen.