Liebe Brüder und Schwestern,
der Darstellung des Herrn im Tempel (s. Ex. 13:2,12; Lev. 12:8) misst der Evangelist Lukas eine solch hohe Bedeutung bei, dass er sichtbar bemüht ist, seine Erzählung als unanfechtbares Zeugnis der Wahrheit erkennbar zu machen. Er selbst stammte ja nicht aus Palästina, sondern aus Syrien, war entweder ein hellenistischer Proselit oder ein Vertreter der jüdischen Diaspora, bevor er zum Gefolge unseres Herrn stieß. Später war er ein getreuer Weggefährte des heiligen Apostels Paulus (s. Kol. 4:14; 2 Tim. 4:10; Philem. 23), was sich auch aus seiner Autorschaft der Apostelgeschichte ableiten lässt. Da er sich in den geographischen Gegebenheiten Palästinas nicht so gut auskannte, sind Ortsangaben bei ihm nicht immer präzise (s. z.B. Lk. 9:52; 10:38; 11:1; 17:12). Doch hier, bei der Begegnung im Tempel, legt er wert auf größte Treue zum Detail und führt den hl. Simeon und die hl. Anna als Zeugen an, die den vierzigtägigen Jesus als kommenden Messias verkünden. Jeder in Jerusalem muss Simeon als den gerechten und frommen Mann gekannt haben, dem der Heilige Geist offenbart hatte, dass er nicht sterben werde, bevor er den Messias gesehen haben wird (s. Lk, 2:25-26). Auch der Abstammungsnachweis zur Identifikation der Prophetin (s. 2:36) hat zum Ziel, die gesetzeskonforme Darstellung des Messias im Tempel als zweifelsfrei evidenzbasiert zu bezeugen. So ist erwiesen, dass Christus, anders als viele andere vor und nach Ihm, nicht in Seinem eigenen Namen gekommen sein kann. So wie Johannes der Täufer zu Beginn Seiner irdischen Mission und die drei Weisen aus dem Morgenland bei Seiner Geburt Zeugnis von Ihm als dem Messias ablegten, so tun es nun vereint Simeon und Anna im Tempel. Was heute geschah, passierte also nicht unversehens. Die frommen Menschen in Israel litten unter der Last der Sünden und der unterbrochenen Harmonie mit Gott. Der „Tag der Entsühnung“ (hebr. Iom Kippur, s. Lev. 16), der nur der symbolischen Reinwaschung von den Sünden diente, so wie die permanenten Sühneopfer, die lediglich präfigurativen Charakter in Bezug auf das Kreuzopfer Christi besaßen, sprachen damals Bände. Der „Sündenbock“ (s. auch Num. 28:22; 29:5) war somit die prophetische Anspielung auf Jesus Christus – „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“ (Joh. 1:29). Von den Propheten wussten die frommen Juden schon lange Zeit im Voraus, dass Der kommen muss, der die „Sünden von vielen“ (Jes. 53:12) tragen und als Sündloser für die Schuldigen eintreten wird.
Alles, was sich heute im Tempel zugetragen hat, wurde durch die Verkündigung der heiligen Anna im Gedächtnis all jener Zeitgenossen bewahrt, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ (s. 2:38). Der Evangelist Lukas konnte später auf deren detailgetreuen Überlieferungen zurückgreifen.
Neben den hinreichend bekannten Worten des heiligen Simeon aus der Vesper (s. 2:29-32) wird der Sinngehalt des heutigen Festes zum einen durch die Prophezeiung über Christus: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch Ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und Er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden“, und zum anderen durch die an die Mutter des Herrn gerichtete Ankündigung Ihres Leidens ausgedrückt: „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (2:34-35). All das wird sich in gut drei Jahrzehnten bis ins letzte Detail erfüllt haben. Christus Selbst wird es später auch voraussagen: „Denkt nicht, Ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt. 10:34). Und der Apostel Paulus wird später aus eigener leidvoller Erfahrung prophetisch verkünden: „So werden alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen, verfolgt werden“ (2 Tim. 3:12).
Es geht also um das Messiaszeugnis: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, Er ist zum Eckstein geworden“ (Ps. 117:22; vgl. Mt. 21:42; Mk. 12:10). Trotz all dieser Zeugnisse, die seit Seiner Geburt ja mit der konkreten Person Jesu aus Nazareth verbunden waren, trotz der untrüglichen Verkündigung des Vorläufers und trotz all der Zeichen und Wunder, die der Herr vollbracht hatte, nahm Ihn Sein Volk bewusst nicht an (s. Mt. 27:25). Seit dem Kreuztod Christi entscheidet das Verhältnis eines jeden zu Ihm über ewige Seligkeit und ewige Verdammnis. Aber es gibt hier Unterscheidungen: „Der Knecht, der den Willen des Herrn kennt, sich aber nicht darum kümmert und nicht danach handelt, der wird viele Schläge bekommen. Wer aber, ohne den Willen des Herrn zu kennen, etwas tut, was Schläge verdient, der wird wenig Schläge bekommen“ (Lk. 12:47-48a). Zur ersten Kategorie gehören abtrünnige, m.E. aber auch ausschließlich „mit dem Herzen gläubige“ orthodoxe Christen; zur zweiten Kategorie gehören vielleicht die, welche nicht von Kindheit im orthodoxen Glauben erzogen worden und ohne die Erleuchtung durch den Heiligen Geist auf Abwege geraten sind. Doch auch solche, die nicht im wahren Glauben unterwiesen worden sind oder welche aus objektiven Gründen nicht der Kirche angehören, werden vom barmherzigen Richter Gerechtigkeit erfahren (s. Röm. 2:14-16). Für uns orthodoxe Christen gelten dagegen andere Maßstäbe: „Nicht die sind vor Gott gerecht, die das Gesetz hören, sondern Er wird die für gerecht erklären, die das Gesetz tun“ (Röm. 2:13). Denn „wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen“ (Lk. 12:48b). Wie einem Gläubigen die Mysterien Christi (Beichte und Kommunion) da noch überflüssig erscheinen können, bleibt für mich unerklärlich. Ihnen zufolge hätte sich der Evangelist Lukas die Mühe wohl auch sparen können. Amen.