Predigt zum 6. Herrentag nach Ostern / vom Blindgeborenen (Apg. 16:16-34; Joh. 9:1-38) (21.05.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute begehen wir den letzten Herrentag der Osterzeit, feiern wir letztmals die „Auferstehung in der Auferstehungszeit“. An diesem Tag wird uns jedes Jahr die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen am Teich Schiloach zu Gehör gebracht. Und egal wie oft man diese oder andere Perikopen liest oder hört, tun sich immer wieder neue Abgründe der göttlichen Weisheit auf.
Der Herr heilt nicht einen Menschen, der durch Krankheit oder durch äußere Einflüsse erblindete, sondern einen, der zeit seiner Geburt niemals das Licht gesehen hat. Er erlangt sein Augenlicht, wird geheilt von Christus, Der Selbst „das Licht der Welt“ (Joh. 8:12; 9:5) ist. Ein großes Wunder, ohne jeden Zweifel. Eines, das Freude und Dankbarkeit bei allen hervorruft, – sollte man meinen. Doch anstatt Gott zu preisen, beginnt man sofort mit der Zusammenstellung einer Expertise, und das gleich in vier Etappen. Zuerst „prüfen“ die Nachbarn und Bekannten, ob es auch wirklich derselbe blinde Bettler ist. Es kommen erste Zweifel auf, ob hier nicht womöglich ein Betrug oder eine Verwechslung vorliegt, doch der Betreffende zerstreut diese schnell, erzählt in aller Ausführlichkeit, wie er von dem „Mann, Der Jesus heißt“, von seinem Leiden erlöst worden ist (s. Joh. 9:8-11). Nachdem diese Voruntersuchung abgeschlossen ist, wird der Fall an die zuständigen geistlichen Behörden übergeben – die Pharisäer. Diese befragen den ehemaligen Blinden, wie er nun sehend geworden ist, und der erzählt alles noch einmal ganz genau. Eigentlich müsste diese Aussage genügen, um zu dem abschließenden Befund zu kommen: Ein Wunder, das nicht geleugnet werden kann! Doch der Geist der Widerspenstigkeit dieser wahrhaft Blinden äußerst sich darin, dass nach ihrer Logik dieser Mensch nicht von Gott sein kann, da Er den Sabbat nicht hält. Diejenigen, die noch einen Funken Anstand besitzen, geben zu bedenken, dass ein Sünder solche Zeichen nicht tun kann. Es kommt zum Disput zwischen den Mitgliedern der Untersuchungskommission (s. 9:13-16). Einige bezweifeln, dass der Bettler überhaupt blind gewesen war, vermuten, dass ein dreister Betrug hinter der ganzen Sache steckt. Man beschließt nun als dritten Schritt der Nachforschungen die Eltern zu befragen. Allerdings ist offensichtlich, dass diese unter starkem psychologischen und gesellschaftlichen Druck stehen. Deshalb antworten sie nur ausweichend, bestätigen lediglich ihre Elternschaft und dass ihr Sohn blind geboren wurde, verweisen aber dann umgehend auf die Mündigkeit ihres Sohnes (s. 9:18-23). Für jeden Untersuchungsausschuss müssten dies unwiderlegbare Tatsachen sein, so dass das Ergebnis feststehen sollte: der Mann war blind geboren, wurde von Jesus aus Nazareth geheilt => ein Wunder! Aber die Kommission kommt noch zu einer vierten Sitzung zusammen, und wieder wird der Kronzeuge aufgefordert, alles bis ins Detail zu schildern. Als dieser sich, offensichtlich genervt von der vielen Fragerei, weigert, wird er unehrenhaft aus dem Zeugenstand entlassen und das abschließende höchstrichterliche Urteil gesprochen: Dieser Mensch ist ein Sünder! Die Aussagen des Hauptentlastungszeugen sowie der Nebenzeugen werden gar nicht zur Beweisaufnahme zugelassen. Wie in unserer Zeit üblich, verfährt man auch hier: „Wir haben unsere Meinungsbildung abgeschlossen, wozu brauchen wir noch irgendwelche Fakten?!“ Und das ist nur das Vorspiel zu dem Gericht, das unseren Herrn am Ende Seiner irdischen Mission zum Kreuztod verurteilen wird. Nur darum ging es ihnen von Anfang an.
Wir müssen uns also nicht wundern, wenn wir bzw. unsere Kirche zunehmend in das Kreuzfeuer der Kritik in der medialen Berichterstattung gerät. Was unsere Kirche in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten erduldet hat, was sie seit dem Fall des glaubensfeindlichen Totalitarismus geschaffen hat – all das wird totgeschwiegen, ignoriert oder vollkommen verfälscht wiedergegeben. Wenn zehntausende von Priestern täglich aufopferungsvoll ihren Dienst verrichten, interessiert sich niemand dafür; sobald aber einer von ihnen sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, sind die Journalisten in Windeseile vor Ort und die Nachricht erscheint auf allen Kanälen. Unser Patriarch, der Tag für Tag wunderbare und inspirierte Predigten hält, wird wegen einer bewusst oder unbewusst falsch interpretierten Äußerung an den Pranger gestellt, was zu neuen Verfolgungen der Kirche Christi führt. Die einen suchen nach Gründen der Anschuldigung, andere, die selbst geistlich blind sind, lassen sich von dieser Hetzkampagne irreführen. Meist sind es „Gläubige“, die nicht real am Leben der Kirche teilnehmen – und wenn sie es doch tun, dann umso schlimmer für sie! All denen, die so leicht diesen Verunglimpfungen Glauben schenken, möchten wir die bemerkenswerten Reaktionen unseres heutigen Helden auf die jeweiligen Zwischenergebnissen und dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission zu Gemüte führen:
1) Auf die Frage der Nachbarn und Bekannten, wo der Mann sei, Der ihn geheilt hat, sagt er zunächst noch: „Ich weiß es nicht“ (Joh. 9:12).
2) Dann, gefragt nach seiner Meinung über seinen Wohltäter, spricht er: „Er ist ein Prophet“ (9:17).
3) Von den Pharisäern erneut in der Absicht befragt, das Wunder unseres Herrn in Abrede zu stellen bzw. Christus zu diffamieren, kontert der Mann bereits furchtlos mit einer Gegenfrage: „Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Wollt auch ihr Seine Jünger werden?“ (9:27).
4) Auf das Schluss-Plädoyer der Anklage, man wisse ja von Dem da nicht, woher Er kommt, entgegnet er schließlich: „Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst woher Er kommt; dabei hat Er doch meine Augen geöffnet. Wir wissen, dass Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und Seine Willen tut, den erhört Er. Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte Er gewiss nichts ausrichten können“ (9:30-33). Mit jeder Fortführung des einseitigen Kreuzverhörs wächst in ihm der Bekennermut, gleichzeitig aber auch die Erkenntnis Christi. Der Blinde wird zum Sehenden, die Sehenden aber zu Blinden (s. 9:39; vgl. Jes. 29:18; 35:5; 42:7,16,18).
5) Als Christus den Geheilten, der soeben von den Pharisäern hinausgestoßen worden war, von Sich aus aufsucht, fragt ihn der Herr, ob er an den Menschensohn glaube. Dieser offenbart hier noch seine Unwissenheit und gleichzeitig seine Entschlossenheit zu glauben: „Wer ist das, Herr? (Sag es mir,) damit ich an Ihn glaube“ (9:36). Und als Sich Christus ihm offenbart, fällt er vor Ihm nieder und bekennt: „Ich glaube, Herr!“ (9:38). Das Wunder der plötzlichen Öffnung der leiblichen Augen erweist sich lediglich als Sinnbild der schrittweisen Öffnung der geistlichen Augen des Blinden!
Wir können es ihm gleichtun, uns ein Beispiel an ihm nehmen. Auch wir müssen uns in der Finsternis dieser Welt zurechtfinden. Es gibt nur ganz wenige Menschen mit prophetischen Gaben, die von vornherein wissen, was zu tun ist und was am Ende Gottes Willen sein wird. Wir hingegen müssen uns am Anfang wie der sehend gewordene Blinde aus dem Dunkeln heraus tasten, uns selbst in einigen Dingen unsere Unwissenheit eingestehen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir allmählich das geistliche Licht im Dunkeln erkennen: „Kann denn die Finsternis mich zertreten? Ja, Nacht erleuchtet mich und erquickt mich! Denn Finsternis ist nicht finster vor Dir, und Nacht wird wie der Tag erleuchtet: Wie einst ihre Finsternis, so ist nun ihr Licht“ (Ps. 138:11-12). Das ist nun mal unsere Berufung als Christen in dieser Welt. Wir sind nicht allein, nicht schutz- und orientierungslos, denn „das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ … „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“ (Joh. 1:5,9).
Der heilige Apostel und Evangelist Johannes, dessen Gedächtnis wir heute ebenso begehen, schreibt zudem: „Gott ist Licht; und keine Finsternis ist in Ihm“ (1 Joh. 1:5). Natürlich vermag kein Mensch das Wesen Gottes zu begreifen und noch dazu in Worten auszudrücken. Johannes der Theologe, der ja kein Gelehrter, sondern ein einfacher Fischer war, verwendet die einfachsten Begriffe, die der Sache am nächsten kommen: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh. 4:8,16); „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Joh. 1:1); „In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen“ (1:4). Einfachste Worte, erfüllt mit unergründlicher Tiefe. Dabei müssen wir nicht immer für alles eine Antwort parat haben: „Warum geschieht dieses oder jenes, warum schaut Gott tatenlos zu?“ Das Beispiel des Blindgeborenen lehrt uns, alles so zu akzeptieren, wie Gott es gegeben hat. Wer Leid erträgt, muss deshalb nicht ein größerer Sünder sein. Doch alles in der Welt geschieht, damit das Wirken Gottes offenbar werden kann (s. Joh. 9:3). Amen.