Das Leben und Wirken des ehrw. Seraphim

Der ehrwürdige Seraphim, der Wundertäter von Sarow, war am 19. Juli 1754 als Sohn des Kaufmanns Isidor Moschnin geboren und wurde auf den Namen Prochor getauft. Seine ganze Erziehung hatte er seiner Mutter - Agafija Moschnina - zu verdanken, denn der Vater war gestorben, als der Knabe drei Jahre alt war. Gott der Herr hatte dem ehrwürdigen Seraphim schon von dessen Kindheit an sein besonderes Wohlwollen erwiesen - so blieb der Knabe unversehrt, als er eines Tages von einem in Bau befindlichen Glockenturm herunter - fiel. Ein anderes Mal genas er durch den Segen der Kursker Korennaja - Ikone der Gottesmutter des Zeichens auf wunderbare Weise nach einer schweren Krankheit. Die Wohltaten Gottes fanden in der kindlichen Seele einen dankbaren Widerhall. Am meisten verlangte es Prochor nach einem Dienen für Gott und nach geistlichen Belehrungen. Mit siebzehn Jahren geht er nach Kiew, um die heiligen Gottesknechte des Höhlenklosters zu verehren und sich "auf dem Wege des Herrn" einen weisen Lehrmeister zu suchen. Unweit von Kiew diente in der Klause zu Kitajewo der Starez Dosifei, der sagte zu Prochor: "Lenke deine Schritte nach Sarow, und verweile dort. An dieser Stätte wirst du mit Gottes Hilfe Rettung finden." Er wies ihn an, er solle inbrünstig zu Jesus Christus, zum Heiligen Geist und um die Reinheit seiner Seele und seines Leibes beten. Am 20. November 1778 traf Prochor im Einödkloster zu Sarow ein, das sich durch seine Begründer und Mönche einen Namen gemacht hatte. Dort herrschte eine strenge Ordnung; die Klosterbrüder hatten nicht nur eifrig zu beten und zu dienen, sondern sie mußten auch sorgfältig die Schriften der heiligen Väter studieren. Acht Jahre lang diente Prochor als Novize, und am 13. August 1786 wurde er als Mönch mit dem Namen Seraphim eingekleidet. Ein Jahr später weihte man ihn zum Diakon. Der Mönchspriester des Klosters, Pachomi, verrichtete ohne Seraphim keinen einzigen Gottesdienst Und eines Tages tat sich für Seraphim der Himmel auf - während der Göttlichen Eucharistie erschien in der Kirche der Herr Jesus Christus selbst mit Seinen himmlischen Kräften. Diese Vision regte den jungen Mönch noch mehr zu einem abgeschiedenen Gebet und zu einem Einsiedlerleben an. Aber erst zwanzig Jahre nach seinem Eintritt in das Kloster wurde Vater Seraphim zum Mönchspriester geweiht.

In seiner Klosterzelle betete der Mönchspriester Seraphim unaufhörlich zu Gott, und häufig wurden ihm auch himmlische Visionen zuteil Die Stufenleiter der Tugenden, die er erklomm, ließ ihn beinahe zu einem ersterschaffenen Adam werden - die Tiere des Waldes näherten sich dem Mönch ohne Scheu und gehorchten ihm Vater Seraphim hat stets voller Andacht seine Gebete verrichtet, und diese Regeln für das Beten sind auch heute noch in der Kirchenüberlieferung lebendig Er riet den gottliebenden Menschen, bis zur Mittagszeit unaufhörlich zu Christus zu beten und sich danach auch an die Gottesmutter zu wenden: "O Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erhöre das Flehen der Heiligen Jungfrau und erbarme Dich meiner Sünden". Durch die Verherrlichung der Mutter Gottes in inbrünstigem Gebet wollte der Starez Seraphim der Heiligen Jungfrau für die großen Wohltaten danken, die sie ihm erwiesen hatte. Zwar setzte der tückische Feind auch oftmals dem Einsiedler zu, aber dieser rief Christus um Beistand an, betete reinen Herzens und machte das Zeichen des Kreuzes, worauf der Böse von ihm abließ Eine weitere Großtat von Vater Seraphim war, daß er das Gelübde des Schweigens ablegte, denn wie er sagte, bringe dieses den Menschen Gott näher und mache ihn sozusagen zu einem irdischen Engel Dann ging der Starez zu einem strengen Einsiedlerleben über.

Nur seine Klosterzelle, heilige Ikonen und ein Eichensarg waren Zeugen seines eifrigen Dienens für Gott. Im Jahre 1825 erschien die Heilige Gottesgebärerin Vater Seraphim erneut. Sie gebot ihm, sein Einsiedler leben aufzugeben und alle zu empfangen, die des Trostes, der Genesung und der christlichen Erbauung bedurften.

Ein halbes Jahrhundert lang hat der Starez seine Seelsorge verrichtet, und sieben Jahre hatte ihm der Herr noch gegeben, damit er dem russischen Volk seine segensreichen Erfahrungen noch zukommen lasse und die getreuen Kinder der Christuskirche auf den rechten Weg zur Errettung hinlenke. Der selige Starez war im gottesfürchtigen Volk dafür bekannt, daß ihm der Heilige Geist alle Seine Gaben hatte zuteil werden lassen - er besaß einen prophetischen Geist, vermochte Menschen von ihren Krankheiten zu heilen, die Göttlichen Geheimnisse zu erläutern und anderes mehr Seine größte Gabe und Tugend war die Demut. Als ihn der Gutsbesitzer M. Manturow eines Tages bat, er möge ihm Genesung bringen, da erwiderte er: "Mein Lieber, wenn du so fest glaubst, so glaube doch auch daran, daß der Allmächtige dich genesen lassen wird, denn Er vermag alles. Ich aber, der ich nur schwach bin, werde für dich beten." Und das Gebet des demutsvollen "schwachen" Starez" erwies sich durch Gottes Gnade stärker als das Leiden. Als sich der Mönchspriester Seraphim anschickte, in die Ewigkeit einzugehen, vermachte er, aufrichtig besorgt um die Errettung aller Menschen, allüberall Gottes Wort zu säen: "Säe, Vater Timon, das dir gegebene Weizenkorn überall aus. Säe es auf fruchtbarem Boden, säe es auf Sand, säe es auf Stein, säe es am Wege, säe es im Dorngesträuch. Überall wird es hervorsprießen und Früchte tragen."

Am Tage vor seinem Dahinscheiden hatte der Starez dreimal die für ihn vorbereitete Begräbnisstätte aufgesucht. Am Abend waren dann aus seiner Zelle Ostergesänge zu hören, und am anderen Morgen - das war am 2. Januar 1833 - fand man den Mönchpriester Seraphim in seiner Zelle tot auf. Er war vor einem Bildnis der Gottesmutter der "Rührung" in kniender Stellung entschlafen. Acht Tage lang war sein Leichnam in der Kirche aufgebahrt, ohne zu verwesen. Beigesetzt wurde der Mönchspriester Seraphim am Altar in der Mariä Entschlafenskirche. Die Kunde von seinem Ableben verbreitete sich rasch In dem fernen Stadt Woronesh ließ Erzbischof Antoni noch am gleichen Tag für den entschlafenen Mönchspriester Seraphim eine Seelenmesse abhalten. An dem Morgen, da der Starez das Zeitliche segnete, erblickte Filaret, der Abt des Glinsker Einödklosters, ein bekannter Glaubensstreiter, am Himmel ein wunderbares Licht und sagte: "So steigen die Seelen rechtschaffener Menschen zum Himmel hinauf Das ist die Seele von Vater Seraphim, die da emporsteigt!" Ein paar Tage vor seinem Tode hatte Vater Seraphim zu einem Klosterbruder gesagt: "Mein Lieber, du darfst jetzt nicht trauern, sondern sollst dich freuen. Sollte ich vor Gott kommen, so werde ich vor Seinem Thron niederknien und für euch beten" So ist es auch geschehen, wir glauben es! Der Herr hat die Gebete Seines Dieners Seraphim erhört und über ganz Rußland seine Wohltaten wie die Wasser des Lebenspendenden Osterquells ausgegossen Vater Seraphim hat im ganzen orthodoxen Volk - zu seinen Lebzeiten und auch nach seinem Tode - für heilig gegolten er wußte die Leidtragenden stets zu trösten, hat ihnen für alle Zeiten gute Belehrungen gegeben und ihnen den Weg zur Errettung gewiesen.

Archimandrit Antoni, der das Dreifaltigkeits - Sergij - Kloster beinahe ein halbes Jahrhundert lang geleitet hatte, kannte den Starez Seraphim persönlich Er hatte bei ihm Beichten abgelegt und auch dessen Segen für sein Dienen als Klosterabt empfangen. Im Januar 1831, damals stand er noch dem Wyssogorsker Einödkloster vor, war er zu Vater Seraphim gekommen, um ihm zu beichten, daß er bereits an den Tod denke Aber der Starez sagte ihm, daß er sich irre "Gott bat dich dazu ausersehen ein großes Kloster zu leiten". Zwei Monate später ließ der Moskauer Metropolit Filaret aus den dichten Wäldern des Wolgagebietes den noch niemandem bekannten Abt Antoni kommen und vertraute ihm die Leitung des Dreifaltigkeits - Sergij - Klosters an. Metropolit Filaret hat sich selbst wiederholt zu den Belehrungen und Gebeten von Vater Seraphim hingewandt. Er schrieb: "Ich füge mich den Ratschlägen des Starez Paissi (Welitschkowskij) und des Starez Seraphim". Viele Briefe enden bei ihm mit den Worten: "Mögen uns die Gebete des Starez Seraphim helfen". Und nicht nur berühmte geistliche Würdenträger haben dem Glaubensstreiter von Sarow dessen Heiligkeit bescheinigt. Der Obergeistliche einer Kirche von Arsamas, Swetosarski, hatte am 26. April 1873 nach Diwejewo geschrieben, während er einmal schwerkrank daniederlag, sei der Gottesknecht Seraphim zu ihm gekommen und habe ihn mit irgendwelchen wunderbaren Pasteten gespeist. Danach habe er ihm geboten, einen Lobgesang auf die Mutter Gottes anzustimmen, den der Obergeistliche auswendig kannte. Während er dies im Geiste tat, ließ die Krankheit von ihm ab. Derartige Zeugnisse hat es sehr viele gegeben.

Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte der hervorragende russische Theologe und Schriftgelehrte A. Chomjakow in einem Brief an A. Koscheljow, einem Anhänger alles Westeuropäischen, darauf aufmerksam gemacht, daß die zeitgenössische Kultur, die man Rußland aufdrängen wolle, keine Wurzeln habe. Die wahre Kultur des russischen Volkes müsse seinen Worten zufolge auch aus russischen Wurzeln hervorsprießen: "Die Wurzel und die Grundlage sind der Kreml, Kiew, das Einödkloster von Sarow..." Offenbar war A. Koscheljow von dieser Feststellung und der Polemik mit A. Chomjakow sehr stark beeindruckt, denn er unternahm eine Pilgerfahrt nach Sarow, um sich im orthodoxen Glauben zu stärken. Auch in den Familien von Axakow und Tjutschew wurde Seraphim verehrt. So trug Darja Feodorowna, die Tochter des Dichters Feodor Tjutschew in ihr Tagebuch ein: "Ich weiß nicht, gibt es irgend jemanden auf der Welt, der den Starez Seraphim mehr verehren könnte als ich. Ich fühle so stark seine Nähe. Ich rufe ihn bei jeder Kleinigkeit an. Kann ich zum Beispiel nicht einschlafen, so rufe ich ihn an, lege mir sein Bildnis unter das Kopfkissen, und sofort schlummere ich ein Er ist für mich wie eine Kinderfrau". Das hatte folgende Bewandtnis. Als neues Hoffräulein bei der Großfürstin hatte Darja gleich an einem der ersten Abende auf einmal furchtbare Krämpfe bekommen Der ganze Hof nahm an ihrem so seltsamen und unerwarteten Leiden großen Anteil Als sie für kurze Zeit wieder zur Besinnung kam, da sagte ihre Schwester Anna: "Gelobe es dem Vater Seraphim, daß du, wenn du nicht stirbst, zu seinem Grabe fährst und dich vor ihm verneigst". Darja nickte mühsam, zum Zeichen, daß sie einverstanden sei. Im selben Augenblick schlief die Kranke ein, und das Leiden ließ etwas von ihr ab. Als Darja dann wieder halbwegs genesen war, erfüllte sie ihr Gelübde. Sie begab sich im Jahre 1863 nach Sarow, um dort zu beten Die Kunde von dem Wundertäter von Sarow drang auch bald bis zum Zarenhof vor. Anna Feodorowna Tjutscbewa war die Erzieherin der Großfürstin Maria, einer Tochter des Zaren Alexander II. Einmal erkrankte das Mädchen sehr heftig, und alle Petersburger Leuchten der Medizin waren ratlos. Da befahl Anna Tjutschewa, man solle den Mantel des Starez Seraphim, der im Schloß aufbewahrt wurde, herbeibringen, und mit ihm deckte sie dann die Kranke zu. Die Zarentochter flüsterte: "Vater Seraphim, bitte bei Gott für mich",- worauf sie sich beruhigte und einschlief Zur großen Verwunderung der Ärzte ging das Leiden in einen Schnupfen über und verschwand nach etlichen Tagen gänzlich.

Die vom Heiligen Geist erleuchtete Liebe des Vaters Seraphim erwärmte das gesamte orthodoxe Volk Und zusammen mit dem Apostel Paulus konnte der Starez sagen: "Unser Mund hat sich zu euch aufgetan... unser Herz ist weit geworden Ihr habt nicht engen Raum in uns" (2. Kor. 6, 11-12). Der feste Glaube und die Frömmigkeit, die darin zum Ausdruck kamen, daß der getreue Gottesdiener Seraphim von den höchsten Rängen der Hierarchie, den gebildeten Gesellschaftsschichten und dem einfachen Volk gleichermaßen stark verehrt wurde, ließen erkennen, daß sich das russische Volk im Zeitalter der Verweltlichung und des Rationalismus sein kirchliches Bewußtsein bewahrt hatte. In der Gestalt dieses großen Glaubensstreiters verflochten sich eifriges Dienen und inbrünstiges Beten und paradiesische Helle - ein bereits überirdisches Licht - zu einem einheitlichen Ganzen. Jegliche Natur, die Seraphim mit seinem edlen Geist angehaucht hatte, wurde heilig - seien es ein Stein oder Wasser, ein Sarg oder andere Dinge, alle strömten sie einen Segen und Heilung aus Alle Menschen glaubten fest daran, daß Gott auf die Gebete des Starez Seraphim seinen Segen herabsende Und wer es noch erlebte, wie Seraphim von der Kirche heiliggesprochen wurde, der sagte: "..wir hatten uns schon von früher Kindheit an den Gedanken gewöhnt, daß dies ein getreuer Knecht Gottes und ein fürwahr heiliger Mann ist" Das Volk war sich dermaßen sicher, daß die Kirche den ehrwürdigen Seraphim einst verherrlichen würde. Daher wurden schon lange vor diesem Ereignis zu seinen Ehren Altäre hergerichtet, so beispielsweise in der bereits 1875 fertig erbauten Dreifaltigkeits - Kirche des Klosters in Diwejewo.

In der Rus sind seit langem drei Faktoren ausschlaggebend gewesen, damit ein Gottesknecht glorifiziert werde: das Volk, die Geistlichkeit und die weltliche Macht. Denn zunächst wird ein eifriger Glaubensstreiter vom Volk spontan verehrt. Das ist zwar ein unerläßliches, aber noch nicht ausreichendes Kriterium, damit er von der Kirche heiliggesprochen werde. Die kirchliche Macht hat diese Gefühle des Volkes auf den Weg der wahrhaftigen Frömmigkeit hinzulenken, sie zu heiligen und zu segnen. Bei der Verherrlichung des ehrwürdigen Seraphim sehen wir, daß der Wunsch und die sehnlichen Erwartungen des Volkes, der Geistlichkeit und der Staatsobrigkeit übereinstimmen.

1897 legte der Tambower Bischof Jeronim dem Synod zweimal die Kopien von Aufzeichnungen vor. Diese bezeugten, daß der Starez durch seine Gebete tatsächlich Wunder bewirkt hatte Doch jedes Mal befahl der Synod, man solle noch mehr Erkundigungen einziehen Der Hochheilige Synod erläuterte den Kindern der Orthodoxen Kirche, nach welchen Grundsätzen und Kriterien ein Gottesknecht heiliggesprochen werde: "Die Gabe des Wunderwirkens ist jener Finger, mit dem uns Gott der Herr seit jeher unsere Lehrmeister gezeigt hat, die uns zur Errettung hinführen und vor Seinem Thron Fürsprache für uns einlegen können. Das ist das Göttliche Wort, das er ihnen verleiht, damit wir zu ihnen beten können... In alten Zeiten mußten für die Verherrlichung eines Gottesknechtes drei Wunder geschehen: ein Tauber begann zu hören, ein Stummer hub an zu sprechen, und ein Blinder wurde sehend". Aber das Wundertun reichte allein noch nicht aus.

Der Verfechter des christlichen Glaubens mußte auch noch einen gottgefälligen und frommen Lebenswandel geführt haben - dann konnte er heiliggesprochen werden. Viten eines Glaubensstreiters werden nicht dafür verfaßt, um mehr aus seinem Leben zu erfahren oder zu klären, inwiefern er heilig ist, sondern damit die Kirche die Großtaten eines Heiligen, die von Gott zu unserer Erbauung, zu unserem Trost und zu unserer Errettung gesegnet werden, verkünden kann. Die Persönlichkeit des Mönchspriesters Seraphim, sein eifriges Dienen für Gott, seine Wundertaten und Zeugnisse der Wahrheit Christi entsprachen allen Kriterien und Anforderungen, wie sie für eine feierliche Verherrlichung durch die Kirche notwendig sind. Der "Glaube des Volkes an die Heiligkeit des Starez Seraphim" war nicht von der höchsten kirchlichen Macht vorgeschrieben worden.

Im gegebenen Falle wurde dieser Knecht Gottes schon wirklich verehrt. Sie hatte nur noch den entsprechenden kanonischen Beschluß zu fassen und somit den "Volksglauben" durch ihre apostolische Macht und die ihr von Gott erteilte Gnade zu segnen. Darin besteht denn wohl auch der Sinn einer Heiligsprechung.

Die Orthodoxe Kirche hält die Reliquien heiliger Gottesknechte hoch in Ehren. Sie sind von großer Bedeutung, damit wir unserer himmlischen Fürsprecher stets gedenken. Kurz vor dem Fest zu Mariä Himmelfahrt wurde unter Aufsicht des Tambower Bischofs Dimitri das Grab des Wundertäters von Sarow geöffnet. In dem ausgemauerten Grabgewölbe erblickte man einen völlig unversehrt gebliebenen Eichensarg. Der Hochheilige Synod sprach den Mönchspriester erst heilig, nachdem eine spezielle Kommission, mit dem Metropoliten von Moskau und Kolomna, Wladimir, an der Spitze bestätigt hatte, daß es sich tatsächlich um die Reliquien des Starez Seraphim handelt.

Nachdem sich Zar Nikolai II. am 26. Januar 1903 mit dem Bericht des Synods über die Seligsprechung des Mönchspriesters Seraphim bekannt gemacht hatte, hinterließ er auf dem Papier den V ermerk: "Habe den Bericht mit wahrer Freude und tiefer Rührung gelesen". Bemerkenswert ist hierbei, daß diese Anmerkung auf die seeliscbe Verfassung des Monarchen schließen läßt und nichts Gebieterisches an sich hat. Folglich ist die Heiligsprechung eines Gottesknechtes ein rein kirchliches Anliegen, und die Staatsobrigkeit kann ihr nur willfährig zustimmen, sie aber nicht bestätigen. Da dieser Beschluß des Hochheiligen Synods der ganzen Kirche am 29. Januar 1903 kundgetan wurde, so ist dieses Datum als Tag der Heiligsprechung des ehrwürdigen Seraphim von Sarow zu betrachten.

In den Publikationen der Kirchenpresse zu diesem Ereignis ist nicht von einer "Kanonisierung", sondern nur von einer Verherrlichung die Rede. Die Verherrlichung beginnt im irdischen Leben eines Gottesdieners und endet im Himmel. Und seine Verehrung im Volk wird durch die kirchliche Verherrlichung noch mehr untermauert. Dieser Prozeß umfaßt auch die Herausbildung eines hagiographischen Kanons - Abfassung von Heiligenviten und gottesdienstlichen Texten. Ein wichtiges Moment ist hierbei der Reliquien - Verehrung - d. h. im Gottesdienst verneigt man sich feierlich vor Ikonen und Reliquien. Eine Kanonisierung ist aber auch als ein normativer Rechtsakt zu betrachten - die höchste Kirchenmacht faßt einen kanonischen Beschluß, demzufolge können die getreuen Kinder der Kirche einen Gottesknecht ohne jeglichen Zweifel als einen Heiligen verehren. Im Falle des ehrwürdigen Seraphim hat die Kirchenobrigkeit sozusagen nur noch ihre Zustimmung gegeben, daß der Starez als Heiliger verehrt werde, denn als solcher hatte er schon vorher im ganzen Volk gegolten, und der Heilige Geist hatte auf dieses errettende und gottgefällige Gefühl des Volkes seinen Segen herabgesendet. Die Heiligsprechung eines Gottesknechtes muß in einem Festgottesdienst und in einer Verneigung vor seinem heiligen Bildnis oder aber vor seinen heiligen Reliquien gipfeln.

Obzwar heilige Reliquien in der Russischen Kirche schon seit langem verehrt werden, hat sich im Bewußtsein des V olkes hinsichtlich der Bedeutung der sterblichen Überreste von Heiligen im religiösen Leben der Orthodoxen eine unrichtige Meinung verfestigt. Dieser Meinung zufolge handle es sich bei den unverwesten Reliquien um einen ganzen Körper. Diese falsche Ansicht muß in der Synodalperiode der Kirche aufgekommen sein. Im Mittelalter hatte man sich über den Zustand der sterblichen Überreste von entschlafenen Gottesdienern weiter keine Gedanken gemacht: als die Mariä Entschlafens - Kathedrale umgebaut wurde und die sterblichen Überreste hoher geistlicher Würdenträger von Moskau umgebettet werden mußten, da wußten alle - Ionas Leichnam war unverwest, bei Fotij hatte er sich teilweise erhalten, und von Kiprian waren nur noch die Gebeine übriggeblieben. Bevor die Kirche die Akte über die Inaugenscheinnahme der sterblichen Überreste des Mönchspriesters Seraphim verlautbarte, hatte sie das Volk über die orthodoxe Lehre von den heiligen Reliquien aufgeklärt. So erhielt die Herde Kenntnis, daß in allen schriftlichen Erwähnungen der Kirchenlehrer über die heiligen Reliquien unter den sterblichen Überresten die Gebeine zu verstehen seien. In den russischen Chroniken und Viten war oftmals die Wendung zu finden - "der Sarg und der Leichnam wurden der Erde übergeben, aber die heiligen Reliquien blieben unversehrt". Übelgesinnte Leute wollten sich die Verirrungen mancher Menschen hinsichtlich der heiligen Reliquien zunutze machen. So verbreitete ein gewisser Kampfbund gegen die Orthodoxie" in Petersburg Flugschriften, mit denen man im Volk hinsichtlich der Reliquien des Starez Seraphim Verwirrung stiften wollte. Das veranlaßte den Metropoliten von St.Petersburg und Ladoga, Antoni, öffentlich eine Erläuterung abzugeben: "Die Nichtverwesung sterblicher Überreste ist überhaupt kein Grund, um heilige Gottesstreiter zu verherrlichen... Wenn sterbliche Überreste nicht verwesen, so ist das ein Wunder, aber nur zusätzlich zu den Wundern, die sie selbst bewirken. Und die Heiligkeit des Starez Seraphim wird nicht nur durch die Beschaffenheit seiner sterblichen Überreste bestimmt, sondern auch durch den Glauben des Volkes und die zahlreichen Wunder, die sich nach näherer Untersuchung durchaus als glaubwürdig erwiesen haben und die den Begebenheiten hinzuzurechnen sind, welche durch Fürsprache des Vaters Seraphim die wunderwirkende Kraft Gottes offenbaren".

Der Wladyka behauptete, von dem Starez Seraphim seien nur noch die Gebeine übriggeblieben, die aber "ihrem Wesen nach als heilige Reliquien zu betrachten und von allen jetzt andächtig zu verehren seien" Als die Gebeine des Starez Seraphim am 3. Juli in einen neuen Sarg aus Zypressenholz umgebettet wurden, da erfüllte sich der ganze Altar der ehrwürdigen Sosima und des ehrwürdigen Sawwati mit einem besonderen Wohlgeruch...

Zu den Feierlichkeiten in Sarow hatte sich beinahe die gesamte gottesfürchtige Rus eingefunden, es waren alle Darbenden und Genesung Suchenden hingekommen - und sie wurden in ihren Hoffnungen nicht betrogen - die Tauben begannen zu hören, die Blinden wurden sehend, und die Stummen hoben an zu sprechen: am 15. Juli, das war ein Dienstag, erlangte die neunundfünfzigjährige Bäuerin J. Michailowa aus dem Gouvernement Wjatka, nachdem sie in einem heiligen Quell gebadet hatte, ihr Augenlicht wieder. Sie war siebzehn Jahre lang blind gewesen. Am 16. Juli begann ein kleines taubstummes Mädchen, nachdem es das wundertätige Muttergottesbild der ,Rührung" berührt hatte, zu sprechen. Jeder Fall einer Genesung wurde ziemlich genau festgehalten und beglaubigt. Der Segen des Wundertäters von Sarow war in der ganzen Orthodoxen Rus zu spüren. So teilte der Gouverneur von Pensa dem Tambower Bischof Innokenti mit, am Tage der Verherrlichung des Starez Seraphim habe sich in seinem Gouvernement ein Wunder ereignet - die dreijährige Xenija Firsowa - ihre Eltern hatten Bekannte gebeten, bei dem Ehrwürdigen in Sarow zu beten - sei sehend geworden. In jenem Sommer wurde in Sarow überhaupt viel gebetet, denn die Gegend wurde von einer großen Dürre heimgesucht. Die Erde war völlig ausgetrocknet. Und immer, wenn auf der Landstraße Equipagen, Pferdegespanne und auch nur Menschen daherkamen, wurden regelrechte Staubwolken aufgewirbelt. Aber der geduldige russische Pilger scheute sich nicht, Hunderte Werst weit zu gehen. um ja nur sein Ziel zu erreichen - nämlich sich vor den heilkräftigen Reliquien des Starez Seraphim zu verneigen. Bei den Feierlichkeiten war auch der Monarch (Nikolaj II.) anwesend, das verstärkte im russischen Volk das Gefühl, im Gebet vereint zu sein.

Am 18. Juli wurde um sechs Uhr abends der erste Gottesdienst eingeläutet, in dem der ehrwürdige Seraphim von der Kirche als Heiliger verherrlicht wurde. Und seine heiligen Reliquien wurden ausgestellt, damit sie das ganze Volk verehre. "...In diesen heiligen Reliquien des neuen Fürsprechers für die Russische Kirche spüren wir den Pulsschlag unserer Kirche. Denn eine Kirche, die durch neue Selige und Gottesheilige geziert wird, ist nicht tot, ist weder erstarrt noch versteinert, sondern sie lebt und gedeiht, verjüngt sich. In diesem Sarg sehen wir den Quell, das Licht und die Freude unseres Glaubens", sagte der Tambower Bischof Innokenti in seiner Ansprache. Die gesamte Orthodoxe Rus erfüllte eine geistliche Freude, und bis auf den heutigen Tag wird der ehrwürdige Seraphim in den ganzen Russischen Landen als einer der größten Glaubensstreiter der Heiligen, Ökumenischen und Apostolischen Kirche verehrt.

Oberpriester Ioann Sergijew (von Kronstadt) stellte anläßlich der Verherrlichung des Starez Seraphim über das Wirken der ehrwürdigen Väter folgende Betrachtungen an. Er sagte: "Die Ehrwürdigen waren himmlische und christliche Philosophen, die durch ihr Tun das Christliche Evangelium erfüllt haben... Sie haben sich von jeglichen unsauberen Leidenschaften gereinigt, sich unaufhörlich in die göttliche Weisheit versenkt, gebetet und Askese geübt, haben keine körperlichen Mühen gescheut, daher erglänzten sie wie eine Sonne und wurden schon während ihres irdischen Daseins nicht selten von einem überirdischen Licht beschienen, und nach ihrem Dahinscheiden wurden sie von strahlenden Engeln zum Himmel begleitet... So hat der Herr auch unseren neuen Gottesknecht, unseren ehrwürdigen Vater Seraphim, den Wundertäter von Sarow, verherrlicht".

O Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erhöre die Gebete unseres ehrwürdigen Vaters Seraphim, des Wundertäters von Sarow, und erbarme Dich unserer Sünden. Amen. O. Schwedow

Jahr:
1990
Herausgegeben:
Orthodoxes Leseheft 1990 2