Predigt zum 14. Herrentag nach Pfingsten / nach Kreuzerhöhung (Gal. 2:16-20; Mk. 8:34-9:1) (29.09.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
die uns allen bekannte Rede des Herrn von der Nachfolge und der Selbstverleugnung wird bei uns zwei Mal im Jahr vorgetragen: am Herrentag der Kreuzverehrung (3. Herrentag der Großen Fastenzeit) und am Herrentag nach dem Hochfest der Kreuzerhöhung. Beide Male wird die entsprechende Passage aus dem Evangelium nach Markus verlesen. Die Parallelstellen bei Matthäus (16:24-28) und Lukas (9:23-27) sind vom Wortlaut her nahezu identisch. Archimandrit Boris Kholtschev (+1971), der unter unter der Führung zweier Heiliger geistlich heranwuchs, nämlich des Optina-Starzen Priestermönch Nektarij (Tichonov, +1928) und des Moskauer Starzen Erzpriester Aleksij Metchev (+1923), und dem ebenfalls heiliggesprochenen Sohn des Letzteren, dem priesterlichen Märtyrer Sergij Metchev (+1942) spirituell nahestand, unterscheidet in einer seiner Homilien vier Arten des Kreuzes, das einem jeden von uns zufallen kann. Drei davon stehen im vollen Einklang mit den Worten unseres Herrn von der Nachfolge und der Selbstverleugnung, während wir uns alle vor dem vierten Kreuz hüten sollen. Aber der Reihe nach:
1) Jedem von uns fallen im Leben Schwierigkeiten zu: Krankheiten, Verluste, Rückschläge, Missgeschicke, Ungerechtigkeiten, Anfechtungen und Verleumdungen seitens unserer Mitmenschen u.v.m. Wer diese ihm gesandten Prüfungen mit Geduld und Liebe annimmt und sein äußerliches Schicksal in Dankbarkeit erträgt, ähnelt Simon von Kyrene, der von Gott auserkoren wurde, das Kreuz unseres Herrn tragen zu dürfen (s. Mt. 27:32; Mk. 15:21; Lk. 23:26).
2) Wer ein Leben als Asket führt, sich also innerlich mit der Sündhaftigkeit seiner Seele auseinandersetzt, in der Tiefe seines Herzens den Abgrund der Unreinheit der Gedanken und Gefühle ausmacht, diese ständig beweint und ob seiner Unwürdigkeit vor Gott permanent Reue zeigt, der reiht sich neben dem Räuber zur Rechten unseres Herrn auf Golgatha ein, der quasi mit seinem letzten Atemzug die Vergebung all seiner Missetaten erlangte und dank der unermesslichen Gnade Gottes zum ersten Paradiesbewohner wurde (s. Lk. 23:40-43).
3) Wer den Herrn liebt, der wird in diesem Leben sein Kreuz in Demut und Liebe tragen. Das ist die Grundbedingung dafür, dass unser irdischer Dienst von Gott gesegnet werden wird. Ein Beispiel hierfür erkennen wir aus der Geschichte. Der oströmische (byzantinische) Kaiser Herakleios (+641) wollte nach dem erfolgreichen Feldzug gegen die Perser, welche das Kreuz Christi bei ihrer zeitweiligen Eroberung Jerusalems in ihre Gewalt gebracht hatten, bei seiner triumphalen Rückkehr das Lebensspendende Kreuz im Jahre 630 auf seinen Schultern wieder in die Grabeskirche Christi nach Jerusalem zurückbringen. Doch obwohl der Kaiser mit außergewöhnlicher körperlicher Kraft ausgestattet war, konnte er die heilige Reliquie vor den Toren der heiligen Stadt nicht vom Fleck bewegen. Da leuchtete es ihm ein, dass unser Erlöser Sein Kreuz in Erniedrigung getragen hatte, und so legte er seine kaiserlichen Prunkgewänder ab und kleidete sich in Lumpen. So trug er das Kostbare und Lebenspendende Kreuz des Herrn voller Demut zurück an den Ort, von dem es Jahre zuvor von den Heiden entwendet worden war. Dieses Ereignis bildete übrigens zusammen mit der Auffindung des Heiligen Kreuzes durch die heilige Kaiserin Helena (+327) anno 326 die historische Grundlage für die kirchlich-liturgische Feier der Kreuzerhöhung. Auch wir können durch Demut vor unserem Herrn dazu beitragen, dass das Kreuz Christi wieder über den Völkern in Ost und West, Nord und Süd erhöht wird.
4) Das vierte Kreuz aber ist, wie bereits angesprochen, für keinen von uns erstrebenswert. Es ist das mit ständigen Verfluchungen und Schuldzuweisungen verbundene Ertragen seiner zumeist selbstverschuldeten Lebensumstände und aller plötzlicher Missgeschicke, die oftmals infolge maliziöser Nachstellungen übelgesinnter Feinde lawinenartig über einen hereinbrechen. Diese Einstellung gegenüber dem von Gott zugewiesenen Schicksal lässt in den betreffenden Menschen unschwer den gekreuzigten Räuber zur Linken unseres Herrn erkennen (s. Lk. 23:39), der die ihm vom liebenden Gott geschenkte Möglichkeit zur Umkehr aufgrund seiner boshaften Selbstbezogenheit verstreichen ließ. So ein Kreuz tragen ungezählte Drogen- oder Alkoholkranke, welche statt Reue und Zerknirschtheit in ihrer Selbstrechtfertigung verharren. Viele getaufte Menschen, denen irdisches Glück und beruflicher Erfolg im Leben versagt blieben, machen natürlich Gott für ihr schweres Los verantwortlich. Wäre ihnen aber Karriere bzw. Familienglück beschert worden, würden sie diese ihren eigenen vortrefflichen Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreiben.
Für uns steht fest, dass wir auf die ersten drei Arten „mit Christus gekreuzigt“ (Gal. 2:19) werden wollen, nicht aber gemäß der vierten Variante. Äußerliches und Innerliches müssen miteinander übereinstimmen: „Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen“ (Röm. 10:10). Das Kreuz Christi ist wie der Gekreuzigte Selbst, der „Stein des Anstoßes“ (Röm. 9:32; vgl. Ps. 117:22; Mt. 21:42; Lk. 2:34-35): „Siehe, Ich richte einen Stein auf, an den man anstößt, einen Fels, an dem man zu Fall kommt. Wer an Ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen“ (Röm. 9:33). Das Kreuz Christi ist somit der wieder zugänglich gemachte „Baum des Lebens“ (Gen. 2:9; 3:22). Nur wenn wir bereitwillig unser Kreuz in diesem zeitlichen Leben auf uns nehmen, leben nicht mehr wir, dann lebt Christus in uns (s. Gal. 2:20). Amen.