Predigt zum 6. Herrentag nach Ostern, vom Blindgeborenen (Apg. 16:16-34; Joh. 9:1-38) (09.06.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
mit unserem Herrn und Seinen Jüngern begegnen wir heute einem Mann in Jerusalem, der seit seiner Geburt blind gewesen war. Seine Blindheit steht einerseits in einer allegorischen Beziehung zur geistlichen Blindheit all der Völker, die den Heiland zuvor aus Unwissenheit nicht kannten (vgl. Joh. 9:36) und Ihn jetzt nach dem Taufbad vor sich sehen können, da Er mit ihnen spricht (s. 9:7,37). Denn der Richter ist in diese Welt gekommen, „damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden“ (9:39). Der vormals Blinde aber sieht nun auch mit den geistlichen Augen, denn er erkennt Christus dankbar als Seinen Herrn an (s. 9:38), während die „Sehenden“ das „Licht der Welt“ (9:5) nicht erkennen und weiterhin versuchen, dem Wohltäter so zahlreicher Kranker und Leidender aus diesem erneuten offensichtlichen Wunder einen Strick zu drehen. Wie furchtbar es doch ist, wenn man das Heil vor sich hat und es nicht erkennt! Wozu man in dieser Welt dann nur fähig ist! Wir haben es also mit einer Anklage des auserwählten Volkes Israel zu tun, das „die Zeit der Gnade nicht erkannt“ hatte (Lk. 19:44). Und so kam es, wie es kommen musste: „Heiden, die die Gerechtigkeit nicht erstrebten, haben Gerechtigkeit empfangen, die Gerechtigkeit aus Glauben. Israel aber, das nach dem Gesetz der Gerechtigkeit strebte, hat das Gesetz verfehlt“ (Röm. 9:30-31).
Andererseits vergleicht der heilige Johannes von Kronstadt (+1908) aber auch jeden Getauften, welcher die Heiligen Gaben des Leibes und des Blutes Christi gering achtet, mit den „Sehenden, die blind geworden sind“. Erleuchtet durch das Taufbad erkennen sie nicht die Notwendigkeit der gnadenvollen Mysterien der Kirche, durch die allein die Krankheit (Blindheit) unserer Natur geheilt werden kann. Diejenigen unter uns, die ihre seelischen und körperlichen Leidenschaften als etwas „Natürliches“ ansehen und diese sogar gutheißen, sind demzufolge diese „sehenden Blinden“. Ihnen wird Christus für immer fremd bleiben, weil sie in ihrem blinden Hochmut die Notwendigkeit des Erlösers negieren, und die Heilung ihrer gefallenen Natur als etwas Unnötiges betrachten, so der heilige Bischof Ignatij (Briantchaninov, +1867).
Die heutige Lesung aus dem Evangelium nach Johannes ist demnach ein Plädoyer Christi dafür, dass wir alle sehend werden. Doch leider maßen sich viele heute an, über alles und jeden richten zu können. Über sie sagt der Herr: „Ihr urteilt, wie Menschen urteilen“ (Joh. 8:15a). Sie ignorieren die Warnung des Herrn: „Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht!“ (Joh. 7:24). Denn Christus allein ist in diese Welt gekommen, um zu richten (s. Joh. 9:39). Doch wenn Er auch der Richter der Welt ist (s. Mt. 25:31-46; Joh. 5:22; 2 Tim. 4:1,8), hat doch derjenige, welcher das Wort Christi hört und an Den glaubt, Der Ihn gesandt hat, „das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“ (Joh. 5:24). Für ihn ist das Gericht, das der Vater dem Sohn überlassen hat (s. Joh. 5:22) der Lackmustest, ob er den Sohn wie den Vater geehrt hat oder nicht (s. 5:23). So werden die Einen zum Leben auferstehen, die Anderen zum Gericht (s. 5:29). Der eigentliche Zweck der Entsendung des Sohnes durch den Vater bestand aber nicht darin, „dass Er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch Ihn gerettet wird. Wer an Ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. Denn mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind“ (Joh. 3:17-21). Wir müssen also bestrebt sein, mit den geistlichen Augen das Licht zu sehen (s. Joh. 1:6-9), um dem furchtbaren Gericht am Ende der Welt zu entgehen. Schenken wir also weiter dem Herrn Gehör: „Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an Mich glaubt, nicht in Finsternis bleibt. Wer Meine Worte nun hört und sie nicht befolgt, den richte Ich nicht; denn Ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten. Wer Mich verachtet und Meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das Ich gesprochen habe, wird ihn richten am Letzten Tag“ (Joh. 12:46-48).
In einem inneren Zusammenhang zu der Erzählung aus dem Evangelium steht die Geschichte von der Magd in Philippi, „die einen Wahrsagegeist hatte und mit der Wahrsagerei ihren Herren großen Gewinn einbrachte“ (Apg. 16:16). Wir erkennen anhand dieser vom Evangelisten Lukas als einem der Weggefährten des Apostels Paulus geschilderten Begebenheit, dass der Apostel die Gabe der Unterscheidung der Geister besaß (s. 1 Joh. 4:1-6; 1 Kor. 12:10) und deshalb den unreinen Geist aus ihr austrieb. Er selbst war ja seinerzeit auf dem Weg nach Damaskus kurzzeitig erblindet und ist nach der Erfüllung mit dem Heiligen Geist infolge der Handauflegung durch Hananias wieder sehend geworden (es fiel ihm „wie Schuppen von den Augen“), worauf er sich umgehend taufen ließ (Apg. 9:17-18). Wenn wir wollen, können wir alle mit Gottes Hilfe wie er zu „auserwählten Werkzeugen“ des Herrn werden (s. Apg. 9:15). Christus Gott kann auch unsere Blindheit heilen (s. Ps. 145:8). Gott spricht: „Blinde führe Ich auf Wegen, die sie nicht kennen, auf unbekannten Pfaden lasse Ich sie wandern. Die Finsternis vor ihren Augen mache Ich zu Licht“ (Jes. 42:16). Nur auf diesen von Gott erleuchteten Wegen vermögen wir in das Königtum Gottes einzuziehen. Amen.