Predigt zum Fest der Überführung der Reliquien des heiligen Nikolaos (Hebr. 13:17-21; Lk. 6:17-23) (22.05.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
wieder einmal erinnern wir uns an die Überführung der unverdorbenen Gebeine des „Nationalheiligen“ aller orthodoxen Christen von Myra in Lykien nach Bari (1087). Es versetzt nicht nur mich jedes Jahr in Erstaunen, welche Strahlkraft dieser „Universalheilige“, den man in jeder erdenklichen Lage anrufen kann, doch besitzt. Niemand von uns kann objektiv beurteilen, wer von den Heiligen Gott nach seiner geistlichen, seelischen und leiblichen Tugendhaftigkeit am meisten gefallen hat, aber subjektiv scheint der heilige Nikolaos sicher zumindest unter den Top Ten zu sein. Subjektiv – aus Sicht der Weltkinder, natürlich. Nur so ist zu erklären, dass seine „Popularität“ sogar die des Vorläufers und Täufers des Herrn oder auch des Lieblingsjüngers, Apostels und Evangelisten, dessen Gedächtnis einen Tag zuvor begangen wird, bei Weltkindern offensichtlich übersteigt. Mönche aber auch fromme Laien, die ernsthaft ein geistliches Leben führen, orientieren sich eher an Asketen wie die hll. Antonios, Theodosios, Pachomios, Euphemios, Onuphrios oder Maria von Ägypten. Dabei sind doch alle Heiligen Asketen, also Kämpfer für den Herrn. Übrigens sind wir alle, nominell zumindest, durch die Taufe zu „Kriegern des Herrn“ geworden. Deshalb werden die Christen im Neuen Testament des öfteren als „Heilige“ bezeichnet (s. Apg. 9:13,32,41; 26:10; 1 Petr. 2:9; 3:5; Jud. 3; Röm. 1:7; 8:27; 12:13; 15:25,26,31; 1 Kor. 1:2; 6:1; 7:14,34; 14:33; 16:1,15; 2 Kor. 1:1; 8:4; 9:1,12; 13:12; Eph. 1:1,15,18; 2:19; 3:8,18; 4:12; 5:3; 6:18; Phil. 1:1; 4:21,22; Kol. 1:2,4,12,26; 3:12; 1 Thess. 3:13; 5:27; 2 Thess. 1:10; 1 Tim. 5:10; Tit. 2:3; Philem. 5; Hebr. 3:1; 6:10; Offb. 5:8; 8:3,4; 11:18; 13:7,10; 14:12; 16:6; 17:6; 18:24; 19:8; 20:6,8; 22:11). Die formale Unterscheidung der verschiedenen Ränge von Heiligen bedeutet keine „Katalogisierung“ oder gar „Wertetabelle“, doch „es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist“ (1 Kor. 12:4; vgl. Röm. 12:6-8; 1 Kor. 12:5-11; 28-30).
Alle Heiligen haben das Verlangen gemein, ein Leben in Christo zu führen (s. 1 Kor. 2:2). In der Epoche der Kirchenverfolgung gab es den „kurzen“ Weg des Martyriums, nach dem Ende der Verfolgung wählten viele den „langen“ Weg der Askese. Aber immer war der Dienst an Gott mit dem Dienst an den Menschen verbunden, auch Jahrhunderte später. Es war also keine Abkapselung der Asketen, sondern eine Sammlung der spirituellen Kräfte für den späteren Dienst an den Menschen – sei es durch Gebet, durch Unterweisung oder andere Tätigkeiten. Der heilige Sergij von Radonezh (+1392) gab den Segen zum Befreiungskampf gegen die Tataren, der heilige Hiob von Pochaev (+1651) gab in seiner Druckerei Schriften zur Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen die Zwangsunion mit Rom heraus, der heilige Serafim von Sarow (+1833) öffnete nach 15 Jahren totaler Abgeschiedenheit die Türen seiner kärglichen Behausung für alle Besucher, die Optina-Starzen empfingen Besucher aus allen Teilen Russlands, hll. Bischöfe wie Ignatij (Brianchaninov, +1867) und Theophan der Klausner (Govorov, +1893) führten einen regen Schriftverkehr mit der „Außenwelt“. Und doch hebt sich der heilige Nikolaos aus dieser Schar durch seine Hingabe für die in der Welt befindlichen Menschen besonders hervor. Er wollte auch die Weltflucht antreten, doch als er (buchstäblich) vor der Wegscheidung zwischen Eremitendasein und Kirchendienst in der Welt stand, vernahm er die Stimme Gottes, die ihn zu den von Nöten geplagten Kindern in der Welt sandte. Es war ein umso schwierigerer und mühevollerer Weg für ihn, da er nun die innere Askese mit den irdischen Sorgen der ihm anvertrauten Herde vereinbaren musste. Er konnte es. Mit Gottes Hilfe. Das Verlangen nach einem Leben in der Einsamkeit musste dabei hintanstehen. Einsiedler sind ja keine Egoisten. Sie lieben Gott so sehr, dass sie nichts Seiner Gemeinschaft vorziehen. Aber das steht – wie oben erläutert – in keinem Widerspruch zum Dienst am Nächsten. Mönche bezeichnen sich selbst aus Demut als „zu schwach“, um in der Welt leben zu können. Wer mal als Pilger auf dem Heiligen Berg gewesen ist oder andere heilige Klöster zur Einkehr besucht hat, der weiß, was damit gemeint ist. Dort ist man vor den schädlichen Einflüssen der äußeren Welt weitgehend geschützt. Aber über den geistlichen Kampf der Klosterbewohner oder Anachoreten können wir uns überhaupt auch nicht die geringste Vorstellung machen. Mit Idylle (ein „Leben im Einklang mit der Natur“) hat das jedenfalls nichts zu tun. Wie dem auch sei, alle, ob Geistliche oder Laien, haben diesen Kampf zu führen (s. Eph. 6:12; vgl. 1 Petr. 5:8-9), und das bis ans Lebensende. Aber wir sind nicht allein. Wir haben die himmlischen Heiligen als Unterstützer, dazu noch die irdischen „Heiligen“ (s.o.), die mit uns als Glieder des Leibes Christi diesen Kampf bestreiten. Christus ist das Haupt (s. Eph. 4:15). „Durch Ihn wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt in jedem einzelnen Gelenk. Jedes trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst der Leib und wird in Liebe aufgebaut“ (4:16).
Der heilige Nektarios von Aigina (+1920) erschien mal einem Mann und beklagte sich bei ihm darüber, dass unter den Heiligen im Himmel „Arbeitslosigkeit“ herrsche. Er wollte damit sagen, dass sich die Menschen viel zu selten mit ihren Gebeten an die von Gott verherrlichten Heiligen wenden. Auch deshalb ist vielen Heiligen wohl die Gnade verliehen, den Menschen in dieser Welt aus dem Jenseits zu erscheinen und ihnen in größter Not beizustehen. Der größte „Nachhilfelehrer“ in Sachen Bitten um himmlischen Beistand dürfte in den letzten Jahrhunderten wohl der heilige Nikolaos gewesen sein. Möge er auch weiterhin aktiv dazu beitragen, dass die Arbeitslosigkeit im Himmel ein baldiges Ende finden möge. Amen.