Predigt zum 36. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor. 6:16-7:1; Mt. 15:21-28) (11.02.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute wurde uns die Erzählung von der Erhörung der Bitte einer heidnischen Frau aus dem Gebiet von Tyrus und Sidon zu Gehör gebracht. Über diese Begebenheit wird nicht jedes Jahr an einem Herrentag gelesen, sondern nur dann, wenn wir – wie dieses Jahr – sehr spät die Auferstehung Christi feiern; nur dann gibt es eine Lesung zum „36. Herrentag nach Pfingsten“, weil die alljährlich vorgeschriebenen Lesungen der Vorbereitungszeit zur Großen Fastenzeit (beginnend mit Lk. 19:1-10 über den Oberzöllner Zachäus) wegen des späten Ostertermins noch nicht an der Reihe sind. Dafür aber nächste Woche. Dann wird Zachäus vom Maulbeerbaum aus auf den vorbeigehenden Herrn Jesus schauen…
Heute aber beschäftigen wir uns mit der kanaanitischen Frau, einer Heidin. Für die Juden der damaligen Zeit war der Umgang mit Heiden tabu, weil diese als unrein galten. So wie hassidische Juden von heute keinen Umgang mit Nicht-Juden und sogar mit nicht streng-religiösen Landsleuten pflegen, so verachteten die Juden des Alten Bundes alle Menschen anderen Glaubens und Angehörige fremder Nationalität. Unser Herr Jesus Christus „spielt“ zu Anfang auch nach diesen Regeln. Als Ihn die mutmaßlich sehr temperamentvolle levantinische Frau lautstark und schier unablässig um Hilfe für ihre von einem Dämon gequälte Tochter bittet, ignoriert der Herr zum Schein ihre Bitten und erwidert nicht ihr (mit der Er ja „nicht reden darf“), sondern Seinen wohl schon genervten Jüngern (wobei die Frau natürlich trotzdem als eigentliche Adressatin gemeint ist): „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt. 15:24). Doch die Kanaanäerin bleibt unbeirrt. Trotz dieser abweisenden Haltung dieses jüdischen Predigers, in Dem sie wie viele Juden der damaligen Zeit auch den Sohn Davids (s. 15:22) sah, demütigt sie sich weiter, fällt vor Ihm nieder und fleht: „Herr, hilf mir!“ (15:25). Jetzt spricht sie Ihn schon als „Herr“ an. Zuvor war das noch eine übliche Anredeformel, jetzt aber huldigt sie Ihm und bewirkt zumindest, dass der Herr Sich nun erstmals direkt an sie wendet: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen“ (15:26). Was würden die „politisch korrekten“ selbsternannten Menschenrechtler von heute dazu sagen?! Dieser Jesus vergleicht Sein eigenes Volk mit den Kindern (Gottes), während andere, die nicht dazugehören, als Hunde (vgl. Offb. 22:15) betrachtet werden, die, wiederum, nach dem Gesetz ja als unreine Tiere galten! Ein Skandal!
Wir wissen aber aus unserer heutigen Perspektive, dass dieser Jesus aus Nazareth, für Den Ihn die Leute hielten, der „gute Hirte“ (Joh. 10:11,14; vgl. Mt. 18:12-14; Lk. 15:3-7; Jes. 40:11; Jer. 23:3-4; Ez. 34:11-16) ist, Der Sein Leben für die Schafe Seiner Herde hingibt und zudem auch noch andere Schafe hat, die nicht aus Seinem Stall sind, die Er alle zusammen in einer Herde vereinen wird (s. Joh. 10:11-15). In Seiner göttlichen Vorsehung erkannte Christus im Voraus das Bestreben dieser Frau, sich an Ihn zu wenden, und zwar deshalb, weil sie einen starken Glauben hatte. Außer dieser Heidin (für die Juden ist sie ein Mensch niederer Art, für Griechen und Römer eine Barbarin) offenbart nur noch ein weiterer Heide, nämlich der zivilisierte römische Hauptmann aus Kafarnaum, einen solchen Glauben, dass er dafür von unserem Herrn gelobt wird (s. Mt. 8:10; Lk. 7:9).
Der Herr zeigt dieser Frau anfangs bewusst die kalte Schulter, um ihren Glauben zu prüfen. Er stimuliert durch Seine brüske Abweisung ihren Glaubenseifer, sodass sie sich voller Hingabe an Ihn als den Herrn wendet und flehentlich um Hilfe ersucht. Wer in seiner Not vor Gott niederfällt und um Gnade bittet, der wird erhört werden (s. Mt. 7:7-11; Mk. 11:24; Lk. 11:9-13; vgl. insbesondere Lk. 18:1-8). Gott will aber, dass die Menschen sich aus ganzem Herzen (s. Dtn. 6:5; vgl. Mt. 22:37; Mk. 12:30,33; Lk. 10:27) an Ihn wenden, und so „hilft“ Er halt jedes Mal ein wenig nach. So bleiben sie Gott ein Leben lang verbunden.
Da stellt sich für mich die Frage, ob sich diese vielleicht etwas weniger taktvolle, dafür aber umso mehr taktische Vorgehensweise des Herrn nicht auch in unserer alltäglichen seelsorgerischen Praxis bewähren könnte. Ich meine damit die getauften Christen bei uns, die in ihrer nominellen Mitgliedschaft in der Kirche eine automatische Zugangsberechtigung zu den Mysterien der Taufe und der Krönung bzw. für ein abschließendes Begräbnis nach orthodoxem Ritus sehen. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn wir einheitlich die Zugangsbestimmungen verschärfen, verbunden mit dem Hinweis, dass man sich bei Katholiken und Protestanten auch nicht bloß einfach so taufen lassen kann. Nur müsste das auch richtig kommuniziert werden, damit die Leute nicht verbittert weggehen, sondern begreifen, dass sie zuerst die Ernsthaftigkeit ihrer Intention unter Beweis stellen müssen.
Und selbst jahrelange regelmäßige Kirchgänger könnten im Idealfall von so zum wirklichen kirchlichen Glauben bekehrten Christen lernen, was es heißt, den Glauben bewusst zu leben, also den Hauptsinn ihrer Religiosität nicht im Abhalten formaler ritueller Vorschriften und Gepflogenheiten zu sehen, sondern „den Herrn, unseren Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn. 6:5). Dies würde unweigerlich dazu führen, dass man dann auch seinen Nächsten liebt wie sich selbst (s. Lev. 19:18; vgl. Mt. 22:39; Mk. 12:31; Lk. 10:27; Röm. 13:9; Gal. 5:14). Denn „die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes“ (Röm. 13:10). Amen.