Predigt zum 34. Herrentag nach Pfingsten (Kol. 3:12-16; Lk. 18:18-27) (28.01.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute wollen wir gemeinsam den Dialog unseres Herrn mit einem der „führenden Männer“ (s. Lk. 18:18) nachverfolgen. Gemäß den Darstellungen aller drei Synoptiker verläuft dieser Dialog im Wesentlichen wortgleich. Der Mann spricht den Herrn entweder mit „guter Meister“ (Lk. 18:18; vgl. Mk. 10:17) an oder fragt Ihn nach dem „Guten“ (s. Mt. 19:16), worauf ihn der Herr sanft maßregelt und auf Gott als einzigen Quell alles Guten verweist. Der Evangelist Markus bezeugt, dass Christus diesen aufrichtigen und nach Gerechtigkeit strebenden Mann liebgewann und ihn deshalb zum Verzicht auf alle weltlichen Güter und zur Nachfolge Seiner Selbst auffordert (s. Mk. 10:21). Der Evangelist Matthäus hingegen stellt dem Aufruf zur Nachfolge noch den nicht unerheblichen Zusatz: „Wenn du vollkommen sein willst…“ voran (also noch bevor der Herr vom Verteilen des Besitzes an die Armen etc. spricht - s. Mt. 19:21). Beim selben Evangelisten finden wir auch den Hinweis darauf, dass es sich bei dem vornehmen Fragesteller um einen jungen Mann handelte (s. 19:22), weshalb diese Passage aus dem Evangelium bei uns gemäß allen drei Versionen üblicherweise als „Gespräch mit dem reichen Jüngling“ bezeichnet wird, was mir gleichwohl etwas überzogen erscheint. Ein jugendlicher Ratsherr oder Hofbeamter war aus kulturhistorischen Gründen vor zweitausend Jahren ein Ding der Unmöglichkeit (und ist es im Prinzip auch heute noch), zumal der Herr Selbst und Sein Vorläufer erst mit dreißig Jahren mit ihrem öffentlichen Wirken begonnen hatten. Wir können aber getrost davon ausgehen, dass es sich bei dem Mann um einen noch relativ jungen Erwachsenen handeln musste.
Wie dem auch sei, beginnt die Zwiesprache des Herrn mit dem Mann auf einer formalen Ebene. Ein frommer junger Mann wendet sich an einen religiösen Lehrmeister mit einer Frage betreffs des Seelenheils. Nach einer sachten Abmahnung geht der vermeintliche Rabbi zunächst auf dieses Rollenspiel ein und zählt ihm einige der wichtigsten Gebote auf, wohlgemerkt aber nicht das wichtigste Gebot (vgl. Mt. 22:34-40; Mk. 12:28-31; Lk.10:25-28). Es ist ja immer noch ein Gespräch, das sich auf der Ebene des Buchstabens des Gesetzes abspielt, da der (junge) Mann ja bloß einen Gesetzeslehrer vor sich zu haben glaubt (wenn auch einen, Den er als außergewöhnlich guten ausgemacht hat). Folgerichtig musste die Antwort seitens des jungen Mannes kommen, dass er alle diese Gebote von Jugend an befolgt hat, – und darauf die entscheidende Frage, auf die der Herr gewartet hat: „Was fehlt mir jetzt noch?“ (Mt. 19:20). Er hat alle diese für jeden normalen Menschen selbstverständlichen Gebote doch schon immer gehalten – ist etwa dadurch das Ende der Fahnenstange erreicht? Gibt es denn tatsächlich nichts mehr, wonach er darüber hinaus streben kann?!.. Doch, das gibt es. Aber dazu wechselt der Herr jetzt in einen anderen Modus. Er legt die vorübergehend angezogene Maske des Gesetzeslehrers ab und spricht Klartext – als göttlicher Lehrer: „Eines fehlt dir noch: Verkauf alles, was du hast, verteil das Geld an die Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge Mir nach!“ (Lk. 18:22). Der Herr spricht gleichsam zu ihm: „Du hast Mich selbst darum gebeten. Jetzt hörst du es“.
Was ergibt sich nun daraus? Zunächst einmal, dass sich das Gespräch in eine völlig andere Dimension verlagert hat. Aus den zu allen Zeiten gültigen, in komprimierter Form vom Herrn geäußerten Worten: „Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre deinen Vater und deine Mutter!“ (Lk. 18:20) spricht noch das Alte Testament. All diese Dinge mögen rund 1500 vor der Zeit Christi die moralische Überlegenheit der wahren Gottesverehrung gegenüber dem unmenschlichen Götzendienst (s. Ps. 95:5; vgl. 1 Kor. 10:14-22) bezeugt haben, aber in der Epoche der Etablierung des Gesetzes unter den Juden und bis vor kurzem sogar noch in der post-christlichen Welt galten sie als grundlegende Kriterien für einen anständigen, heutzutage auch gar nicht mehr unbedingt gläubigen, Menschen. Ganz anders verhält es sich mit dem, was der Herr danach zu dem Mann sagt: „Verkauf alles… verteil es an die Armen … du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben“ – vor allem aber: „Folge Mir nach!“ - diese Aufforderungen sind von ihrer Tragweite maximalistisch, ihrer Form nach aber optional, sozusagen als Einladung ausgesprochen. Logisch, denn das höchste Gebot ist die Liebe zu Gott, untrennbar verbunden mit der Liebe zu den Menschen. Und Liebe kannst du nicht gebieten, befehlen oder anordnen. Zu ihr kann man sich und andere nur erziehen, und das ist wiederum mit enorm viel Opferbereitschaft, Geduld und Anstrengung verbunden (s. die heutige Apostellesung: Kol. 3:12-16). So gesehen sind unsere Kirchgemeinden so etwas wie Akademien der Wissenschaften für geistliche Belange. Alles für Gott geben, Christi Nachfolge über alles stellen bedeutet demzufolge nichts anderes als die Ähnlichkeit Gottes zu verwirklichen. Darin liegt unsere Bestimmung. Es ist nun der Logos, Der mit dem jungen Mann – und durch ihn zu uns allen spricht. Er ist das Abbild Gottes (s. 2 Kor. 4:4; Kol. 1:15; Hebr. 1:3); in Ihm gelangen auch wir zur Ähnlichkeit Gottes (s. 1 Kor. 15:49; 2 Kor. 3:18; Kol. 3:10; 2 Petr. 1:4). Eine sinngemäße Abwandlung dieser tätigen Liebe zu Christus erkennen wir in den Worten des Apostels Paulus: „Ahmt mir nach wie ich Christus nachahme!“ (1 Kor. 4:16). So ist das Fundament unseres Glaubens: Freiheit statt Zwang (s. Gal. 5:13). Wir können also selbstbestimmt die Nachfolge des Herrn antreten, jeder auf seine Weise. Kompromisslos sollen wir nur in der Liebe zu Gott und unseren Mitmenschen sein und keinen Deut von der Treue zu unserem Glauben abweichen. Diese zwei Grundfesten sind für uns nicht verhandelbar. Amen.