Predigt zum 13. Herrentag nach Pfingsten (1 Kor 16:13-24; Mt. 21:33-42) (06.09.2020)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

das Gleichnis von den bösen Winzern, das wir heute in der Liturgie gehört haben, ist eine Allegorie, die den Zustand des Alten Israel beschreibt (vgl. Jes. 5:1-7). Gott pflanzt einen Weinberg, übergibt ihn den Winzern, damit sie Ihm zu gegebener Zeit Früchte bringen, und verspricht ihnen einen gerechten Lohn für die geleisteten treuen Dienste. Doch anstatt dessen begehen die Winzer den Frevel wider den Herrn, töten und misshandeln Seine Gesandten und bringen schließlich sogar Seinen Sohn um. Die Bezogenheit auf das Volk Israel des Alten Bundes und vor allem auf die Zeitgenossen Christi ist offensichtlich, aber sind mit den bösen Winzern nicht auch die Christen unserer Zeit gemeint?!..

Gott hat den christlichen Völkern Seinen geistlichen Weinberg – die Kirche – anvertraut. Er erwartet, dass dieser Weinberg geistliche Früchte bringt: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal. 5:22-23). Die hier aufgezählten Tugenden sind das Produkt einer spirituellen Lebensweise in der Nachfolge Christi, denn: „Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Wenn wir aus dem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen“ (5:24-25). Der Weg zum ewigen Leben führt über Selbstverleugnung und Kreuztragen (s. Mt. 16:24-27; Mk. 8:34-38; Lk. 9:23-26); das Ziel jedoch ist die Erlangung der himmlischen Gnade und unaussprechlicher Seligkeit (s. Mt. 5:12). Deshalb entwendet der Widersacher diese Worte immer wieder aus unseren Herzen (s. Mt. 13:19; Mk. 4:15; Lk. 8:12), wohl wissend, dass „der Menschensohn (...) mit Seinen Engeln in der Hoheit Seines Vaters kommen und jedem Menschen vergelten wird, wie es seine Taten verdienen“ (Mt. 16:27).

Der Herr erwartet also Früchte von uns, anhand derer Er über uns urteilen wird. Er wird demzufolge prüfen, ob wir wirklich „das Fleisch und damit unsere Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ haben. Wenn z.B. zwei junge Menschen mit dem kirchlichen Segen und in der ehrfürchtigen Wahrnehmung ihrer Verantwortung vor Gott eine Familie gründen, die das Fundament der Kirche und der Gesellschaft bildet, ist diese Vereinigung heilig. Die Kinder, die aus dieser Verbindung hervorgehen, sind es sowieso (s. 1 Kor. 7:14b). Hier hat das leibliche Element seinen Platz. Doch nachdem die Kinder gezeugt worden sind, sollte man sich allmählich dahingehend orientieren, das Fleisch dem Geist unterzuordnen – das freilich ohne Zwang, sondern in Einmütigkeit und in Abstimmung mit dem geistlichen Vater, um den dabei auftretenden Gefahren vorzubeugen (s. 1 Kor. 7:5-6). Jedenfalls sollte durch diese Akzentverlagerung mit dem schrittweisen Übergang zur nächsten Phase der Vorbereitung auf das Himmelreich begonnen werden. „Die Liebe hört niemals auf“ (1 Kor. 13:8a). Jeder Gläubige hat seine individuelle geistliche Reife, jeder bestreitet sein Heil unter völlig einzigartigen äußeren Voraussetzungen. Darin äußert sich die Freiheit der Christen, die jedoch keinesfalls als „Vorwand für das Fleisch“ genommen werden soll (s. Gal. 5:13). Dass man mit vierzig Jahren noch Bedürfnisse hat, ist verständlich. Wenn aber der medizinische Fortschritt dazu führt, dass sich praktisch alles nur noch über Sexualität definiert (quasi solange die lebenserhaltenden Maßnahmen noch ihre Wirkung zeigen), offenbart das einen katastrophalen sittlichen Verfall der Gesellschaft. Doch „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben; das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche“ (1 Kor. 15:50). Nochmal: „Wenn wir nach dem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen“ (Gal. 5:25). Wir sind Teil einer Gesellschaft, in der die sogenannten Freiheiten des Individuums und Rechte von Minderheiten über allem stehen, woran Politik, Gesellschaft und Werbeindustrie zweifelsohne ihre Aktie haben. Erinnern wir uns an den Einmarsch der deutschen Olympiamannschaft bei der Eröffnungszeremonie in Sotschi 2014: das regenbogenfarbene Kostüm der Athleten sollte eine Demonstration der eigenen moralischen Überlegenheit gegenüber dem menschenfeindlichen (so übersetzt man doch homophob, oder?) Gastgeberland darstellen... Schade nur, dass Saudi-Arabien bislang keine Winterolympiade veranstalten will.

So ist die Gesellschaft, in der unsere Kinder aufwachsen müssen. Mich persönlich stören die Rechte zur sexuellen Selbstbestimmung eines jeden Menschen nicht, und ich kenne kaum jemanden in meiner Kirche, der diese Rechte heute noch ernsthaft in Frage stellt. Wir haben schließlich Wichtigeres zu tun. Zutiefst besorgniserregend in meinen Augen ist aber die Tatsache, dass die Propagierung dieser „Werte“ heute den höchsten Stellenwert in den Teilen der Gesellschaft hat, die maßgeblich für die Meinungsbildung aller Bürger und vor allem für die moralische und weltanschauliche Orientierung der Jugend sind. Zudem ist mir bewusst, dass es vor allem im Osten unseres Landes sehr viele Menschen gibt, die den christlichen Glauben nicht als Grundlage für ihre Lebensgestaltung akzeptieren wollen, und denen gegenüber wir natürlich Toleranz üben sollen. Befremdlich ist aber, dass sich „Christen“ heute vermehrt als Speerspitze dieser einschlägigen Bewegungen hergeben und die Heilige Schrift sowie jegliche aus der Bibel abgeleitete moralische Norm im Sinne dieser neuen „Freiheiten“ umdeuten. Das Christentum wird inzwischen in einem Atemzug mit grenzenloser Freizügigkeit genannt („SM & Christentum“). So wird „Bibelarbeit“ zum Erfüllungsgehilfen der political correctness. 

Wir können zwar nicht viel gegen gesellschaftliche Strömungen unternehmen und wollen auch keinem unsere Lebensweise aufzwingen, aber wir müssen uns intern von bestimmten Tendenzen distanzieren. Wir sind, nüchtern betrachtet, eine verschwindende Minderheit – in Russland, in Deutschland, überall. Doch nach Gottes Plan sind wir das „Salz der Erde“ (Mt. 5:13). „Das Salz ist etwas Gutes“ (Mk. 9:50a; Lk. 14:34a), weil unentbehrlich für die Zubereitung lebensnotwendiger Speisen. Es verleiht dem Essen schon in geringen Mengen Geschmack und  bewahrt zudem Lebensmittel vor dem Verderben. Und deshalb darf es nicht sein, dass „das Salz seinen Geschmack verliert“, weil es danach nicht einmal mehr für den Misthaufen taugt (s. Lk. 14:35). Das aber geschieht, wenn „Christen“ sich dem linksliberalen „Fortschrittsdenken“ anbiedern.

Alles Lamentieren hilft aber nicht. Wir müssen auf uns selbst schauen. Die anfangs erwähnten Früchte des Geistes: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung stellen durch ihre Neunzahl einen Wiedergabebezug zu den Seligpreisungen der Bergpredigt (s. Mt. 5:3-11) dar. In ihnen müssen wir uns üben und vervollkommnen. So werden wir dem Herrn dienen, dazu unseren Mitmenschen, unserer Gesellschaft. Unsere „orthodoxe“ Wirklichkeit sieht oftmals aber anders aus. Hier eine fiktive Darstellung mit großem Realitätsbezug: Tamara Ivanovna „beichtet“: „Ich habe mich wegen Vera Petrovna aufgeregt. Wie oft habe ich ihr erklärt, sie soll nach Beginn des Cherubim-Hymnus nicht ständig die abbrennenden Kerzen vom Kerzenständer entfernen?! Sie will einfach nicht begreifen, dass das den Gottesdienst stört. Wie soll man da noch in Ruhe beten können?!“… Vera Petrovna hingegen sagt während der „Beichte“: „Ich habe manchmal vielleicht etwas gereizt auf die ständigen Anfeindungen von Tamara Ivanovna reagiert. Aber ich lasse mir doch von ihr nicht vorschreiben, wann ich die abbrennenden Kerzen löschen soll. Schließlich ist das meine Aufgabe! Wenn die Kerzen nicht rechtzeitig gelöscht und entfernt werden, verstopfen sie die Kerzenständer, so dass ich dann mühsam mit einem Schraubenzieher das Wachs aus den Löchern entfernen muss. Aber das interessiert Tamara Ivanovna nicht, die sich beim Saubermachen in der Kirche ja immer vornehm zurückhält. Sie will halt nicht beim Beten gestört werden. Die hält sich wohl für eine Heilige hier“. – So geschieht es oft, dass man „Gott um Verzeihung“ bittet, den leidtragenden Mitmenschen aber nicht. Ist auch viel bequemer so, na klar. Gott braucht aber solch eine „Beichte“ nicht (s. Mt. 7:5; Mk. 4:24; Lk. 6:37-41). Ihm würde es schon genügen, wenn sich die beiden Schwestern im Herrn bei einer Tasse Tee aussprechen, sich gegenseitig von Herzen um Vergebung bitten, umarmen und fortan rücksichtsvoll in beiderseitigem Respekt miteinander umgehen würden (s. Röm. 12:10; Gal. 6:1), „denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann  gebt acht, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt. Darum sage ich: Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen. Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, so dass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was ihr wollt“ (Gal. 5:14-17; vgl. Röm. 7:14-25). Auf diese Art von Frömmigkeit wollen wir uns von jetzt an besinnen. Amen.

Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch