Predigt zum 24. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 2:14-22; Lk. 8:41-56) (19.11.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
der Evangelist Lukas erzählt uns heute, wie unser Herr mit Seinen Jüngern aus dem Land der Gadarener zurück in Seine Stadt kommt und dort von einer riesigen Menschenmenge erwartet wird, die sich um Ihn drängt. Gleich wird Er in das Haus des Jairus gerufen werden und unterwegs mit der an Bluterkrankheit leidenden Frau zusammenkommen. Wir beobachten bei Markus die gleiche Abfolge der beiden Ereignisse wie bei Lukas (von Gerasa und Kafarnaum), bei Matthäus stehen noch die Heilung des Gelähmten sowie die Berufung seiner selbst (des Zöllners Matthäus) dazwischen. Dazu unterscheidet sich die Darstellung des letztgenannten Evangelisten über das Doppelwunder in Kafarnaum in einigen Details von den beiden anderen Synoptikern. So wird bei Matthäus der Synagogenvorsteher nicht beim Namen genannt, wobei dieser dem Herrn vom bereits eingetretenen Tode seiner Tochter berichtet, verbunden mit der flehentlichen Bitte, der Verstorbenen die Hände aufzulegen, damit sie wieder lebendig wird (s. Mt. 9:18). Bei Markus und Lukas lesen wir dagegen, dass sich der Synagogenvorsteher namens Jairus flehentlich an Christus wendet, als seine Tochter im Sterben liegt (also noch am Leben ist). Folglich fehlt bei Matthäus auch die Erwähnung des Boten aus dem Hause des Synagogenvorstehers, der diesem die Nachricht vom Tode seiner Tochter überbringt und ihm nahelegt, den Meister nicht mehr zu bemühen. Auch erwähnt der erste Evangelist nicht, dass nur die drei Jünger und die Eltern mit Christus an das Totenbett des Mädchens kommen durften. Dafür erwähnt er als einziger Flötenspieler im Hause des Synagogenvorstehers (s. Mt. 9:23), was einige Kommentatoren dazu veranlasste, hier von zwei ähnlich gelagerten aber doch verschiedenen Fällen zu sprechen. Flötenspieler wurden dafür bezahlt, dass sie, vergleichbar mit Orchestern bei Begräbnissen in der Sowjetunion (mit dem Trauermarsch von F. Chopin), bei Trauerfeiern auftraten. Die Anwesenheit dieser Leute im Hause des Jairus scheint jedenfalls einen Widerspruch darzustellen, denn Flötenspieler würde man im Hause eines frommen Juden, noch dazu eines Synagogenvorstehers, nicht unbedingt erwarten. Wie dem auch sei, Jairus ist ein jüdischer Name, was die Verwechslung z.B. mit einem weniger strenggläubigen Proselyten aus dem multikulturellen regionalen Handelszentrum eigentlich ausschließen sollte. Und eine Duplizität zweier vom Ablauf her eng miteinander zusammenhängender und von der zeitlichen Abfolge her unmittelbar nacheinander stattfindender Ereignisse kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Also berichten wohl alle drei Evangelien von ein und demselben Doppelereignis in Kafarnaum.
Mehrere Exegeten vermuten sogar, dass Jairus zuvor unter den jüdischen Ältesten gewesen war, die der römische Hauptmann aus Kafarnaum zu unserem Herrn gesandt hatte, um Ihn um Hilfe für dessen erkrankten Diener zu bitten (s. Lk. 7:2-5). Wie dem auch sei, gibt es noch weitere geringfügige Abweichungen bei Matthäus, dessen Schilderung zufolge man davon ausgehen kann, dass die an Blutfluss leidende Frau erst geheilt wurde, nachdem sie sich dem Herrn und der Menschenmenge zu erkennen gegeben hatte, während in den beiden anderen Evangelien die Heilung sofort nach der Berührung des Saumes des Gewandes des Herrn erfolgt war (s. Mk. 5:27-29; Lk. 8:44).
Wie lassen sich diese scheinbaren Widersprüche erklären bzw. miteinander in Einklang bringen? Der heilige Johannes Chrysostomos (+ 407) erklärt die von Matthäus überlieferte Darstellung des Synagogenvorstehers vom schon erfolgten Tode seiner Tochter damit, dass um Hilfe flehende Menschen manchmal bewusst zu Übertreibungen neigen, um noch größeres Mitleid zu erwecken. Einige gehen davon aus, dass der Synagogenvorsteher das Haus verließ, als das Mädchen noch in den letzten Zügen lag, er aber schon davon ausging, dass das Kind bis zur Begegnung mit dem Herrn gestorben sein musste. Wieder andere vermuten, dass Jairus da schon von der Erweckung des Witwensohnes in der unweit von Kafarnaum gelegenen Stadt Nain gehört hatte, die nach dem Zeitschema des Evangelisten Lukas schon vorher geschehen war (s. Lk. 7:11-17), was sich natürlich in Windeseile in der ganzen Gegend herumgesprochen haben muss. Vermuten wir somit mal, dass bei Matthäus die Betonung auf den Glauben an die Auferstehung liegen soll. Und trotzdem zeigt sich anhand der Evangelien von Matthäus und Lukas, dass der Glaube des frommen Juden nicht so stark war wie zuvor der des römischen Armeeoffiziers (s. Mt. 8:10; Lk. 7:9).
Was die zwölf Jahre an Blutfluss leidende Frau betrifft, so muss man die Worte des Matthäus über den exakten Zeitpunkt der Heilung nicht auf die Goldwaage legen. Es heißt ja bei ihm: „Und von dieser STUNDE an war die Frau geheilt“ (Mt. 9:22b), – eine zeitliche Bestimmung, die für mich ausreichend Raum für Interpretationen in Bezug auf den Moment des Stillstands der Blutungen lässt.
Abschließend würde ich sagen, dass wir grundsätzlich der Methode des heiligen Theophan des Klausners (+ 1893) folgen sollten, der im Falle von Abweichungen unter den Evangelisten immer dann einer Darstellung den Vorzug gibt, wenn sie von zwei (oder drei) Evangelisten gegenüber einem gestützt wird. All diese nebensächlichen Unstimmigkeiten sind in meinen Augen jedenfalls eher ein Beleg dafür, dass bei den Überlieferungen der vier Augenzeugen alles mit rechten Dingen zuging, d.h. ihre Zeugnisse authentisch sind. Dem biblischen Grundsatz, wonach erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen eine Sache Recht bekommen darf (s. Dtn. 19:15; vgl. Mt. 18:16; 2 Kor. 13:1; 1 Tim. 5:19), wird das „Evangelium von Jesus Christus“ (Mk. 1:1) als Ganzes jedenfalls mehr als gerecht. Amen.