Predigt zum Herrentag vom verlorenen Sohn (1 Kor. 6:12-20; Lk. 15:11-32) (12.02.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
es gibt wohl kaum ein Gleichnis, über das man so viele Überlegungen anstellen kann, wie das vom verlorenen Sohn, das wir jedes Jahr zwei Wochen vor dem Beginn der Großen Fastenzeit behandeln. Der jüngere Sohn, welcher schon vor der Zeit sein Erbteil haben will, steht für die Menschen, die schon in diesem Leben alles haben wollen: Vergnügen, Macht, Ruhm, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit. Dieses Verhalten gründet auf Verblendung durch Hochmut, weil sich der Betreffende von den ihm übergeordneten Personen und Institutionen „emanzipieren“ will, d.h. in allen Dingen seinen eigenen Weg gehen und sich von niemandem in seine Angelegenheiten reinreden lassen will. Bei Adoleszenten ist das zu einem gewissen Grad verständlich, doch wenn so ein Verhalten bei reifen Erwachsenen zu beobachten ist, ist das einfach nur bedauernswert. Wenn diese Menschen doch nur von außen auf sich blicken könnten, würden sie sofort merken, wie lächerlich sie sich dadurch machen!..
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist in seiner Deutung vielschichtig, d.h. mal kann man hier allegorisch die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen erkennen, mal, eher buchstäblich, das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern sehen. Schließlich kann man gegen Ende des Gleichnisses auch den Gegensatz zwischen dem alten Israel und dem neuen Volk Gottes ausmachen.
Der junge Mann geht also in ein fernes Land – und entfernt sich dadurch vom Hause seines Vaters, von Gott und der Kirche. Der Vater hindert ihn nicht daran, obwohl sein Herz blutet. Wie viele fromme Eltern haben schon diese Erfahrung gemacht! Den Kindern scheint es aber völlig egal zu sein, was ihre Eltern, denen sie so viel zu verdanken haben, dabei empfinden. Es überwiegt bei ihnen das Bestreben, nun endlich das tun zu können, was sie immer wollten, aber nicht durften, womit eindeutig das zügellose Leben das jungen Mannes gemeint ist. Dieser wirft sämtliche ihm im Hause seines Vaters beigebrachten Grundsätze über den Haufen, so dass er nach kurzer Zeit sein Vermögen aufgebraucht hat. Und dann kommt eine große Hungersnot in das Land, in dem er lebt. Solange das Vermögen noch seinen verschwenderischen Lebensstil ermöglichte, musste er sich keine Sorgen bezüglich der „Freunde“ an seiner Seite machen, die ihm scheinbar immer wohlgesonnen waren. Doch als die Not da ist, zeigen sie, die Dämonen, ihr wahres Gesicht. Er leidet große Not, ist verzweifelt, doch keiner hilft ihm. Eine Bürger seiner „Wahlheimat“ schickt ihn schließlich aufs Feld, nicht etwa um Schafe zu hüten, sondern Schweine (vgl. Lev. 11:7-8; Dtn. 14:8)! Schlimmer konnte er, der so hoch hinaus wollte, nicht mehr fallen. Er gerät quasi vom Regen in die Traufe. Die niederen Begierden, die dem Schweinefraß entsprechen, können sein tierisches Verlangen nicht mehr stillen. Was er zuvor noch als erstrebenswert ansah, widert ihn jetzt an. Er begreift nun: Es ist alles eitel. „Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?“ (Koh. 1:2). Ist jetzt alles zu Ende für ihn? Oder gibt es noch einen Ausweg?.. Da erinnert er sich an das frühere Wohlergehen im Hause seines Vaters, in dem es ihm an nichts mangelte, wo der letzte Tagelöhner alles Notwendige zum Leben hat. Er fasst den Entschluss zur Rückkehr. Nach dieser Einsicht folgt die Reue. Er will seinen Vater um Verzeihung bitten. Die Worte: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt“ (Lk. 15:18) zeigen bei buchstäblicher Betrachtung des Sachverhalts, dass Ungehorsam, Respektlosigkeit und Widerspruchsgeist gegenüber den Eltern auch ein Vergehen gegen Gott ist (s. Ex. 20:12; Dtn. 5:16; Eph. 6:1-3). Was folgt, ist das Erkennen seines wahren Zustands und die daraus notwendige Konsequenz. „Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner“ (Lk. 15:19). Er erkennt an, dass er sein Recht auf Restitution seines vormaligen Status als Sohn und Erbe verwirkt hat. So macht er sich auf den Weg, ohne zu wissen, ohne zu ahnen, ohne sich überhaupt ausmalen zu können, wie ihn der Vater empfangen wird. Er hofft auf Gnade und Vergebung, zweifelt im Grunde auch nicht an der Milde des Vaters, aber Forderungen stellen – das tut er nicht, denn er hat seine Lektion begriffen. In zerrissenen, abgetragenen und vom Schweinemist stinkenden Kleidern nähert er sich barfüßig dem Hof seines Vater. Dessen Reaktion aber übertrifft alle Erwartungen und macht die Geschichte gleichsam zu einem wunderbaren Märchen, das sich zudem für jeden von uns verwirklichen kann. Der Vater sieht ihn von weitem, läuft ihm entgegen, ekelt sich nicht vor seinen dreckigen und übelriechenden Lumpen, umarmt, küsst ihn, lässt ihn herrlich einkleiden, das Mastkalb schlachten und gibt ein fröhliches Fest für seinen verlorenen und nun wiedergefundenen Sohn! Von wegen: „Mach mich zu einem deiner Tagelöhner – du bist mein Sohn!“ Der Vater lässt ihn die geplanten Worte gar nicht erst aussprechen, so wie Gott, wenn Er unsere Selbstdemütigung im Herzen erkennt, uns in Seiner väterlichen Liebe stets zuvorkommt. „Dein Platz ist hier an meiner Seite. Basta!..“ Das verprasste Erbteil – Schnee von gestern. Der Vater schreibt dieses ab, verbucht es unter seinen Verlusten, ohne dem Sohn etwas nachzutragen. Auch Gott, unser Richter, „trägt die Kosten des Verfahrens“, wenn wir unsere Schuld bekennen und zu Ihm zurückkehren. Die bildhafte Rede ist natürlich von der alles verzeihenden Barmherzigkeit unseres Himmlischen Vaters, Der uns auch dann liebt, wenn wir uns gegen Ihn wenden, Dem kein Opfer zu groß ist, um uns mit Sich zu versöhnen (s. Röm. 5:6-10). Das geschlachtete Mastkalb ist ein Hinweis auf das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“ (Joh. 1:29), die neuen Kleider auf die Reinwaschung von den Sünden im Tränenbad (Mysterium der Beichte), der Ring steht für die Wiederherstellung der Rechte als Sohn und Erbe des Hausherrn, die Schuhe zeigen, dass der, welchem vergeben worden ist, nun den Weg der Verkündigung des Evangeliums vom Frieden Gottes beschreiten soll (vgl. Eph. 6:15). War es etwa nicht so beim Apostel Paulus, der sich nach seiner Bekehrung mehr als alle übrigen Apostel in der Verkündigung Christi abgemüht hat (s. 1 Kor. 15:10)?!
Den Schlussakkord des Gleichnisses leitet der ältere Sohn ein. Er steht mahnend für uns alle, damit wir niemals Neid empfinden gegenüber anderen, die mehr Gaben empfangen haben als wir, obwohl sie es in unseren Augen nicht verdient hätten. Gott denkt und handelt nämlich nicht wie wir Menschen (s. Mt. 20:1-16; vgl. Jes. 55:8-9). Wann begreifen wir das endlich?! Die väterliche Liebe gegenüber dem Gefallenen ist dem älteren Bruder, der sich scheinbar nichts hat zu Schulden kommen lassen, zuwider. Er merkt nicht, dass er in seiner Verblendung seinem Bruder, aber auch seinem Vater Unrecht tut. Der Vater hätte ihm doch bestimmt jederzeit einen Ziegenbock und alles Notwendige geschenkt, wenn er ihn nur darum gebeten hätte. Was soll dieser unverschämte Vorwurf, der nur seine Undankbarkeit offenbart (und wir gleichen ihm, wenn wir selbst mehr oder weniger nach der kirchlichen Ordnung leben und dann Gott Vorwürfe machen dafür, dass Er uns in unseren Augen nicht ausreichend mit irdischen Gütern für unsere Treue bedacht hat)?! Und in Bezug auf seinen Bruder, den er als solchen nicht anerkennt, bezichtigt er diesen übler Dinge, die im Gleichnis entweder so nicht gesagt worden sind oder zumindest nicht belegt sind, die demzufolge von ihm selbst (ungeprüft) hineininterpretiert worden sind (s. Lk. 15:30). – Ja, dem irdischen Gerechtigkeitsempfinden zufolge ist er, der Ältere, ohne jeden Zweifel derjenige, welcher die Anweisungen des Vaters stets befolgt hat, während sein jüngerer Bruder diese ignoriert hat. Aber nun tut dieser dafür Buße, will gar nichts anderes, als Vergebung für sein Fehlverhalten, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, seine frühere Stellung wieder einzunehmen. Dadurch bewahrheiten sich die Worte der Schrift: „Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen schenkt Er aber Seine Gnade“ (Jak. 4:6; 1 Petr.5:5). Was ist schon menschliche Urteilskraft gegen die Weisheit Gottes?! Der Herr deutet schon zuvor an anderer Stelle an, dass der, welchem viele Sünden vergeben worden sind, mehr liebt als der, welchem nur wenig vergeben worden ist (s. Lk. 7:47). Und deshalb können wir Gott nur richtig lieben, wenn wir a) unsere Sünden erkennen, b) diese aufrichtig bereuen und c) Gott um Vergebung bitten. Der heilige Seraphim, zum Beispiel, war ein um tausendfach geringerer Sünder als ich, doch er sah sich als den allerletzten Sünder von allen – und die Gesamtheit der Heiligen mit ihm. Welch eine Gnade sie empfingen dafür, dass sie Gott, und mit Ihm die Menschen, so sehr liebten!
Wenn also jemand ein Problem damit hat, sich als Sünder vor Gott zu sehen, und gar nicht weiß, was und wozu er beichten soll, dann möge er erbarmungslos ehrlich für sich, im Innersten seines Herzens, klären, welchem der beiden Söhne er sich wohl eher zurechnen würde – und daraus den Schluss für seinen Zustand vor Gott ziehen. Ich jedenfalls hoffe für jeden von uns, dass er sich selbst als großen Sünder – den größten von allen – sieht. Amen.