Predigt zum 24. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 2:14-22; Lk. 10:25-37) (27.11.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
das wohl bekannteste („populärste“) Gleichnis unseres Herrn Jesus Christus hat uns der Evangelist Lukas übermittelt. Wer, so wie ich, das Glück einer Glaubensunterweisung in seiner Kindheit hatte, der erinnert sich wohl sehr gerne an die bildhaften Erzählungen aus der Heiligen Schrift, die gleichermaßen Kinder und Erwachsene, Einfache und Gebildete faszinieren. Den Anlass für das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bietet die Frage eines Gesetzeslehrers an unseren Herrn: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Lk. 10:25). - „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“ (10:26). - „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollt du lieben wie dich selbst“ (10:27). - „Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben“ (10:28). Eigentlich ist hiermit alles gesagt. An anderer Stelle sagt der Herr nämlich, dass an diesen beiden Geboten das ganze Gesetz samt den Propheten hängt (s. Mt. 22:40). Wenn wir alle danach handeln, werden wir leben. Was für eine Idealvorstellung das doch ist, dass alle Christen Gott mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, mit all ihrer Kraft und all ihren Gedanken lieben – und ihren Nächsten wie sich selbst!.. Die Realität (auch innerhalb der Kirche) ist eine andere. Und da passt es ganz gut, dass der Gesetzeslehrer weiter nachhakt: „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk. 10:29). Daraufhin hört er das uns inzwischen bestens bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der allegorische Vergleich Christi mit dem barmherzigen Samariter ist nicht zufällig, hatte der Herr doch schon zu Beginn Seiner Mission unter den gastfreundlichen Samaritern gepredigt (s. Joh. 4:27-42), während Er da schon in Jerusalem von den Juden angefeindet worden war (s. Joh. 2:13-22). Nicht zufällig wurde der Herr von Seinen Widersachern als „Samariter“ bezeichnet (s. Joh. 8:48), was aus dem Munde von strenggläubigen Juden einer schlimmen Beleidigung gleichkam. Der Herr lehrt uns dadurch, niemanden, auch die Andersgläubigen, nicht zu verachten oder geringzuschätzen, obgleich Er in Bezug auf deren Verirrungen unmissverständlich sagt: „Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden“ (Joh. 4:22). Doch niemals versagte der Herr den ketzerischen Samaritern oder gar den Heiden Seine Barmherzigkeit, von denen sich die rechtgläubigen Juden in Sachen Glauben und Mitmenschlichkeit hätten etwas abschauen können (s. Mt. 8:10; Mt. 15: 28; Mk. 7:29-30; Lk. 7:9; 17:15-18). Auch als die Söhne des Zebbedäus aus der ihnen von Kindheit an eingeimpften Abneigung gegen ungastliche Samariter diesen den Tod wünschen, weist der Herr sie umgehend zurecht (s. Lk. 9:54-55). Und vor diesem Hintergrund erscheinen die Bilder, die der Herr in Seinem Gleichnis gewählt hat, völlig nachvollziehbar.
Der Priester, welcher den schwer Verwundeten sah und weiterging, hätte zur Rechtfertigung seines Vorgehens (ähnlich wie unser Gesetzeslehrer, der seine Frage rechtfertigen wollte – s. Lk. 10:29) ja auf das Gesetz des Mose verweisen können, wonach den Nachkommen Aarons (den Priestern) jegliche Berührung mit etwas von einer Leiche Verunreinigtem untersagt war (s. Lev. 22:4). Zu seiner Entschuldigung hätte er sagen können, er habe nicht gewusst, ob der Mann noch lebte oder schon tot gewesen sei, und selbst wenn er noch gelebt hätte, wäre die Gefahr groß gewesen, dass der Schwerverletzte in den Armen des Priesters stirbt. Aber auf den Leviten (der zwar aus dem Stamme Levi, aber nicht aus dem Hause Aarons war) traf diese buchstabengetreue Auslegung nicht zu; er hätte sich nicht auf das Gesetz berufen können – die Ausrede galt für ihn nicht. Davon völlig unbenommen hätte den gesetzestreuen Juden klar sein müssen, dass die Gebote dazu bestimmt sind, das Leben zu bringen (s. Dtn. 30:15-16; 3/1 Kön. 2:1-4; Spr. 7:1-2; Lk. 10:28; vgl. Mt. 19:17). Sie können folglich nicht dafür herhalten, einen Mann „gesetzeskonform“ am Wegesrand krepieren zu lassen. Wer so kasuistisch denkt und handelt, lästert Gott!
Demnach hat der Herr den allegorischen Vergleich Seiner Selbst mit dem Samariter, selbstverständlich, mit Bedacht gewählt. Der Samariter fragt nicht nach Volkszugehörigkeit oder Bekenntnistreue, wenn es um die Rettung eines Menschenlebens geht (s. Spr. 25:21; Röm. 12:20). Er handelt barmherzig an dem Notleidenden und erweist sich für diesen als dessen Nächster, was auch unser Gesetzeslehrer ohne Umschweife anerkennt (s. Lk. 10:37). Es ist im tieferen Sinne der Herr Jesus Christus, der Messias, Welcher den von Dämonen arg in Mitleidenschaft gezogenen Menschen auf dessen Abstieg von der himmlischen Herrlichkeit („Jerusalem“, ca. 800 m ü.N.N.) in die Niederungen der Unterwelt („Jericho“, ca. 400 m u.N.N.) rettet und ihn in die Kirche („Herberge“) einführt, wo Er auch weiter für ihn bis zu Seiner Wiederkehr sorgt. Im übertragenen Sinne will der Herr durch dieses Gleichnis das zum Ausdruck bringen, was Er an anderer Stelle gesagt hat: „Kommt alle zu Mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt Mein Joch auf euch und lernt von Mir, denn Ich bin gütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele“ (Mt. 11:28-29).
Nach meinen Empfinden lassen die Gleichnisse des Herrn nichts an Klarheit zu wünschen übrig. Sie verdeutlichen allgemein den Synergismus unseres Heils – das Zusammenwirken menschlichen Tuns mit göttlicher Gnade. Aber es lohnt sich auch, auf die Details zu achten: die „zwei Denare“, die der Samariter dem Wirt für die Pflege des Verletzten gibt (s. Lk. 10:35), stehen für das Alte und das Neue Testament, die unentbehrlich für unsere Rettung sind. Die Bibel ist also nicht bloß dazu da, um unseren Wohnzimmerschrank zu schmücken. Amen.