Predigt zum 23. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 2:4-10; Lk. 10:25-37) (24.11.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute wird unser Herr Jesus Christus ganz konkret von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt: "Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Lk. 10:25). Der Fragesteller kennt die Antwort auf die Frage aller Fragen selbst schon, auch der Herr weiß, dass Sein gesetzeskundiger Gegenüber die Antwort weiß (s. 10:26). In den Parallelstellen bei Matthäus (22:34-40) und Markus (12:28-34) liefert der Herr Selbst die Antwort auf die Frage nach dem obersten Gebot im Gesetz, doch diese beiden Evangelisten erwähnen nichts von der nachfolgenden Zusatzfrage des Gesetzeslehrers: "Und wer ist mein Nächster?" (Lk. 10:29b). Und so hat uns nur der Evangelist Lukas das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als bildhafte Antwort auf diese Frage überliefert.
Die frommen Juden erkannten sehr wohl das Gesetz von der Liebe und Treue zu Gott (s. Dtn. 6:5) als das erste und oberste von allen an (vgl. Ex. 20:1-3). Doch welchen Platz nahm das Gebot von der Liebe und dem gerechten Verhalten gegenüber seinem Mitmenschen (s. Lev. 19:11-18) in dieser Rangordnung ein? - Erstmals hören wir hier (bei Mt. und Mk.) aus dem Munde des Menschensohnes, dass für Gott beide Gebote gleich sind. Hier bei Lukas kommt die Aussage über die Gleichrangigkeit beider Gebote zwar vom Gesetzeslehrer (s. 10:27), wird aber durch den Herrn bestätigt (s. 10:28). Also gab es schon im Alten Bund zumindest ansatzweise eine Vorstellung von der Nächstenliebe als konsequente Beachtung der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott (s. Gen. 1:27)?!.. Wie dem auch sei, die "Tagespolitik" stand mit dem Gebot der Nächstenliebe in seiner ganzen Bandbreite auf Kriegsfuß. Dabei war das Gesetz nur logisch und (mehr als) gerecht: wenn Gott schon die Liebe und Treue zu Ihm und zu den nach Seinem Abbild Geschaffenen als gleichrangig erachtet, sollten im Gegenzug auch Seine Getreuen die Liebe zum Stammesgenossen auf einer Stufe mit der Liebe zum Fremden ansehen: "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott" (Lev. 19:33-34). Auch wir sind heute in der Nachfolge Christi aufgerufen, alle Menschen unterschiedslos zu lieben: die Salafisten, die Kriminellen, die Gottlosen, die Satanisten - alle! Nicht für das, was sie tun oder darstellen, sondern als Mitmenschen, als Kinder Gottes, die in den Augen des Herrn genauso viel wert sind wie wir. Eine andere Interpretation lässt das heute gelesene Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht zu.
Wir kennen den exegetischen Ansatz, wonach der barmherzige Samariter der Herr Jesus Christus Selbst ist, Der den von räuberischen Dämonen in Mitleidenschaft gezogenen Menschen wieder aufrichtet. Samariter waren bekanntlich Feinde für die Juden; und so kam der Herr uns zu Hilfe, als wir noch Seine "Feinde" waren (vgl. Röm. 5:10 und Kol. 1:21-22). Aber dieser unfassbare Akt der göttlichen Barmherzigkeit liegt, folgerichtig, auch der menschlichen Nächstenliebe zugrunde: wenn Gott Sich um unseretwillen erniedrigt hat, gelitten und gestorben ist, so kann Er von uns erwarten, dass auch wir a) Ihn dafür über alles lieben, und b) den von Ihm erlösten Menschen wie uns selbst lieben. Im Grunde ergibt sich daraus dann doch eine gewisse Abstufung in der Wertigkeit beider Teile des Doppelgebots: Gott sollen wir mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit aller Kraft und allen unseren Gedanken lieben, und unseren Nächsten "nur" wie uns selbst (s. Lk, 10:27). Die Nivellierung der Gebote bleibt unberührt (weil an ihr kein Weg vorbeiführt - vgl. 1 Joh. 4:20-21), aber die jeweilige Intensität erfährt dann doch eine klare Unterscheidung. Die Liebe zu Gott erfordert die Aufbietung aller unserer emotionalen, seelischen, körperlichen und geistigen Kräfte - sie muss kompromiss- und grenzenlos sein, während die Liebe zum Mitmenschen sich auf die bekannte Formel reduzieren lässt: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen" (Lk. 6:31). Das erste Gebot ist auf den ersten Blick unendlich schwer zu erfüllen, eigentlich unmöglich; doch wenn wir das zweite und leichtere Gebot konsequent erfüllen, ist auch das erste Gebot nicht schwer (s. 1 Joh. 5:2-3). Das Problem mit dem Gebot der Nächstenliebe besteht für uns aber darin, dass es auf alle Menschen angewandt werden muss. Bei uns reicht die Liebe manchmal nicht aus, um Frieden und Eintracht in der Familie oder der Kirchengemeinde zu wahren; wie sollen wir dann auch noch die unfreundlichen Nachbarn, die nervenden Kollegen, die Migranten, die LGBTs oder die Neonazis lieben?...
Wenn ich Gott über alles liebe, sehe ich, welche Abgründe sich in mir auftun!.. Dann werde ich ein Leben nach dem Geiste führen (s. Gal. 5:16), und nicht eines, das sich durch kulturelle, ideologische, emotionale, psychologische oder sonstige Faktoren definiert. Diese Liebe grenzt niemanden aus (s. Joh. 6:37).
Ein Novize sprach zum hl. Sysoias: "Ich bin im Gedanken immer an Gott!". Der entgegnete ihm: "Erst wenn du dich selber schlechter als alle anderen siehst, dann hast du etwas erreicht". - Neben einem Amateur sieht ein mittelmäßiger Künstler wie ein wahrer Meister seines Fachs aus, aber neben einem Virtuosen von Weltniveau verblasst er. So ist es auch, wenn wir uns im Geiste Gott nähern und erkennen: wir sind nichts - und werden doch geliebt! Diese demütige Haltung unzähliger Heiliger erlaubte es ihnen, gnädig auf ihre Mitmenschen zu schauen. Möglich ist das aber nur in der Kirche, in der unser barmherziger Herr und Erlöser unsere seelischen Gebrechen mit "Öl und Wein" (Lk. 10:34) - Sinnbilder für die lebensspendenden Mysterien - heilt. Denn der Leib Christi ermöglicht die Vereinigung von Gott und Mensch in Liebe! Amen.