Predigt zum 7. Herrentag nach Pfingsten (Röm. 15:1-7; Mt. 9:27-35) (15.07.2018)

Liebe Brüder und Schwestern,  

 

was wir im für heute vorgesehenen Abschnitt des Briefes an die Römer lesen, ist eine komprimierte Anleitung für das Zusammenleben der kirchlichen Gemeinschaft. Die Pfeiler der Kirche als Ganzes sind ihre zahlreichen Untergliederungen, beginnend mit der Familie, der Pfarrgemeinde, der Klostergemeinschaft, der Diözese oder der Landeskirche. Überall kommt das gleiche Prinzip zur Anwendung, welches im Idealfall auch auf den säkularen Bereich (Staat, Gesellschaft, Arbeitskollektive und Zweckvereinigungen) übertragen werden soll: "Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben. Jeder von uns soll Rücksicht auf den Nächsten nehmen, um Gutes zu tun und (die Gemeinde) aufzubauen" (Röm. 15:1-2). Wer firm im Glaubensleben ist, für den ist bekanntermaßen alles möglich (s. Mk. 9:23). Aber aus dieser Stärke resultiert die Anforderung, nicht egoistisch zu handeln, sondern andere mitzureißen, d.h. auch über deren Schwächen hinwegzusehen. "Nicht für sich selbst leben" bedeutet ja keineswegs, sich unbedacht bei jeder Gelegenheit aufopfern zu wollen. Ein Starker, der selbst zum Schwachen wird, kann keinem Schwachen mehr helfen. Er muss seine eigene geistliche Entwicklung vorantreiben, dabei aber auch das Wohl des Nächsten und der Allgemeinheit im Auge behalten. Uneigennützigkeit ist daher nicht mit naiver Selbstaufgabe vereinbar. Christliche Barmherzigkeit fußt ja auf dem Teilen seines Überflusses mit dem Bedürftigen, nicht auf dem totalen selbstlosen Verzicht auf lebensnotwenige Dinge zugunsten anderer. Auch die ungezählten uneigennützigen Heiligen, die ihr ganzes Vermögen an die Armen verteilten, taten dies ja zu dem einzigen Zweck, sich jeglichen Ballastes zu entledigen, damit sie Christus ungestört nachfolgen konnten (vgl. Mt. 19:21-24; Mk. 10:22-23; Lk. 18:22-23). So kommt auch im Normalfall der Grundsatz zur Anwendung, dass das Nützliche, welches ich für die Gemeinschaft tue, im Endeffekt auch mir Nutzen bringt - vor allem, wenn möglichst viele andere durch mein Beispiel zur Nachahmung angestachelt  werden. Entscheidend bei allem, was man tut, ist der Umstand, dass man es nicht für den schnöden Eigennutz tut: "Denn auch Christus hat nicht für Sich Selbst gelebt; in der Schrift heißt es vielmehr: ´Die Schmähungen derer, die Dich schmähen, haben  Mich getroffen`" (Röm. 15:3). Zur Wahrheit gehört aber auch, dass auf das Himmelreich ausgerichtete Gerechtigkeit nicht ohne erhebliche Opfer auskommen kann. Und, ja, für die Erlangung dieses Zieles darf uns in der Tat kein Opfer zu groß sein (s. Mt. 19:20; Mk. 10:30; Lk. 18:29-30).

In allem müssen wir das Augenmaß bewahren. Bloß, wo gibt es Unterweisung, um ein Leben im Einklang mit dem göttlichen Willen und entsprechend der Bestimmung der menschlichen Natur zu führen? Es ist ja ein überaus mühsamer Weg, der in das Himmelreich führt (s. Mt. 7:13-14; Lk. 13:24), doch "alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben" (Röm. 15:4). Jeder wird durch das Wort Gottes Trost und Stärkung in seinem Leid erfahren, da "die Schrift nicht aufgehoben werden kann" (Joh. 10:35). Im Grunde führt diese Erbauung durch die Heilige Schrift, welche die Bewährung in der Not bewirkt, zu jenem inneren Zustand, der das essentielle Doppelgebot von der Liebe zu Gott und den Menschen in uns Gestalt annehmen lässt: "Der Gott der Geduld und des Trostes schenke euch die Einmütigkeit, die Christus Jesus entspricht, damit ihr Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, einträchtig und mit einem Munde preist. Darum nehmt einander an, wie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes" (Röm. 15:5-7). Zu apostolischen Zeiten  trennten vom kulturellen Aspekt her ganze Welten die Judenchristen und die Heidenchristen voneinander, so dass beide Seiten viel an sich arbeiten mussten, um die jeweils andere so anzunehmen, wie Christus sie angenommen hat, zur Ehre Gottes. Die einen fühlten sich als im religiösen Sinne Auserwählte und Erstberufene, so dass sie die "Neuankömmlinge" bestenfalls als Christen zweiter Klasse ansahen, während die anderen sich wegen ihrer vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit als Angehörige des griechisch-römischen Kulturkreises moralisch legitimiert sahen, verächtlich auf die zurückgebliebenen "Alteingesessenen" herab zu blicken. Solche Grabenkämpfe sind aber für "für den Aufbau des Leibes Christi" (Eph. 4:12) kontraproduktiv. Miteinander und füreinander statt auseinander und gegeneinander! Jeder für sich allein ist viel zu schwach auf der zaghaften Suche nach dem einzig Notwendigen (s. Lk. 10:42). Umso mehr freut es mich, wenn ich dann sehe, dass sich Gläubige nach Jahren der inneren Zerrissenheit eingestehen, dass sie wie der fruchtlose Feigenbaum sind (s. Mt. 21:19; Mk. 11:12): sie beten, aber Herz und Verstand schweifen ab; sie fasten, aber die Freude bleibt auf der Strecke; sie gehen zur Kirche, aber eine Beflügelung im Glauben kommt nicht zustande; sie halten sich an die kirchliche Hausordnung, aber Zerrüttungen bleiben nicht aus; sie leben moralisch, aber mit Nächstenliebe ist das so eine Sache: immer ist jemand da, den man "gar nicht lieben kann". So offenbart die ehrliche Selbstanalyse den totalen geistlichen Bankrott!!! - Aber dadurch begibt sich der Büßende zumindest wieder auf die erste Stufe der Seligpreisungen (s. Mt. 5:3; Lk. 6:20). Immerhin kämpfen wir als "Krieger Christi" an der Front, auch wenn wir bloß in den Schützengräben kauern, während uns die Granaten um die Ohren fliegen. Jawohl, auch so dienen wir dem Herrn. Doch alles in allem leben wir ja in friedlichen und nahezu sorgenfreien Zeiten. Gott weiß bereits jetzt, wozu unser innerer Kampf nützlich sein wird, sobald dann wirklich schwere Zeiten anbrechen werden. Amen.

Jahr:
2018
Orignalsprache:
Deutsch