Predigt zum 7. Herrentag nach Pfingsten (Röm. 15: 1-7; Mt. 9: 27-35) (23.07.2017)

Liebe Brüder und Schwestern, heute treffen wir bei Matthäus auf zwei Blinde, deren Augen nach dem Bekenntnis ihres Glaubens (s. Mt. 9: 28) geöffnet werden. Faktische Erzählungen des Evangeliums können genauso wie Bildreden übrigens auch einen übertragenen Sinn haben. Wie unschwer zu erraten, bezieht sich der allegorische Aspekt der Erzählung von den Blinden auf unsere geistliche Blindheit, die nur durch ein stricktes Festhalten am Glauben, sprich, einem aktiven Fortschreiten im geistlichen Leben, abgelegt werden kann. Aber, aber, wie unkonkret ist das denn?! Was soll man sich als heutzutage unter geistlicher Blindheit vorstellen?! - Ganz einfach: die Unfähigkeit, seine eigenen Sünden zu sehen. Schon die erste Stufe der Seligpreisungen verlangt von uns zu Beginn des Matthäus-Evangeliums jene "geistliche Armut", die uns den Zugang ins Himmelreich sichert (s. Mt. 5: 3). Aber was ist das für eine rätselhafte "Armut" vor Gott? Die Auflösung erleben wir am Ende des Matthäus-Evangeliums in Gestalt der "Schafe" zur Rechten des Herrn, die sich ihrer guten Taten vor dem Herrn gar nicht gewahr geworden waren (s. Mt. 25: 37-39). Aber bemühen wir uns überhaupt, uns diese Demut vor dem Herrn anzueignen?.. Stattdessen erwarten wir, dass Gott uns gegenüber in Vorleistung tritt, uns mit irdischem Glück und materiellen Gütern überhäuft, während das Himmelreich noch warten kann. "Wir werden das Reich Gottes ja sowieso zu gegebener Zeit in Besitz nehmen, jetzt aber wollen wir es uns erst mal hier gut gehen lassen" - so denken, fühlen und leben doch die Meisten. Dass sie sich da aber nicht täuschen!... Nach Pfingsten feierten wir das Gedächtnis der Heiligen der Kirche. Heilige sind wie wir Menschen aus Fleisch und Blut, sogar mit Fehlern und sündhaften Neigungen, jedoch sehen sie sich als unendlich sündhaft gegenüber Gott und würden angesichts ihrer eigenen Unwürdigkeit niemals einen anderen ob dessen Schwäche verurteilen. Wir geben uns aber schon damit zufrieden, dass wir keine Räuber, Diebe oder Ehebrecher sind, - und merken gar nicht, dass wir damit die innere Einstellung eines lupenreinen Pharisäers offenbaren (s. Lk. 18: 11). Jedenfalls hindert uns diese Haltung nicht daran, uns selbst über andere Menschen zu erheben und uns mit Gott vollkommen im Reinen zu wähnen. Die unheilvolle Fehleinschätzung. die wir begehen, ist die, dass wir über uns und Andere nach menschlichen statt göttlichen Kriterien richten. Gut, wir leben halbwegs anständig, unser Handeln ist von moralischen Normen geprägt, also sind wir doch objektiv viel besser als irgendwelche heruntergekommenen Halunken. Ja, möglich, dass das aus menschlicher Sicht so ist. Aber wer garantiert mir, dass ich, auch im Einklang mit meinen ethischen Normen von Ehrgefühl und Pflichtbewusstsein, nicht einen Menschen derart verletzt habe, dass ihm der Boden unter den Füßen entglitten ist, oder dass jemand von mir Hilfe in der Not erwartet hat und ich sie ihm bewusst oder unbewusst verwehrt habe?! Ein Suchtkranker oder ein Unzüchtiger ist gewiss auch nicht ganz unschuldig, aber er richtet womöglich keinen so großen Schaden an wie ich in meiner Selbstzufriedenheit. Nur Gott weiß wirklich, was Sache ist. Deshalb ist es von schier unermesslicher Bedeutung, dass wir uns stets redlich bemühen, vor Gott demütig zu sein und ehrfürchtig danach sinnen, in allem Seinen Willen zu tun. Deshalb heißt es: "Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn" (Ps. 110: 10; vgl. Spr. 1: 7; 9: 10). Jemand, der Gott nicht fürchtet, wird seine Vorgehensweise niemals selbst hinterfragen, weil er sein egomanes Empfinden als höchste moralische Instanz sieht. Ist er dann aber nicht ein Tor, der Weisheit und Zucht verachtet (s. Spr. 1: 7)?! Dabei kann er (formal) orthodoxer Christ sein und einen Ruf als vollkommen integrer Mensch genießen, während ein Anderer ohne positiven Leumund trotzdem vor Gott besser dastehen kann. Wir dürfen dabei allerdings nicht in das andere Extrem verfallen und sagen, die konfessionelle Zugehörigkeit oder die Häufigkeit der Gottesdienstbesuche spiele dann ja überhaupt keine Rolle, wenn es nur auf die innere Gesinnung des Herzens ankommt. Es gibt, um das klipp und klar zu sagen, nur den einen "Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh. 14: 6) - Jesus Christus! Nur wissen wir auch, dass Gottes Gnade so unermesslich groß ist, dass sie mit menschlichem Gerechtigkeitsdenken überhaupt nicht kompatibel ist (s. Mt. 20: 10-16) und sogar Gottes eigenen Ratschluss abändern kann, wie im Falle Ninivehs zu Zeiten des Propheten Jonas (s. Jona 4: 11). Haben Adam und Eva nicht endgültig den Tod als Strafe für ihren ungehorsam verdient (s. Gen. 2: 17)?! Todesurteile besitzen gemeinhin die Eigenschaft, nach ihrer Vollstreckung de facto unwiderrufbar zu sein - nur nicht bei Gott! Der Sündenfall der Ureltern war das Fanal für die Rettung des Menschengeschlechts durch die Menschwerdung Gottes, wie im Protoevangelium angekündigt (s. Gen. 3: 15). Und hat vor der endgültigen Überwindung des Todes nach kirchlicher Überlieferung Johannes der Vorläufer nicht denen die nahende Erlösung durch den Herrn verkündet, die im Hades eingeschlossen waren und aus Unkenntnis zu Lebzeiten nicht den wahren Gott angebetet hatten? Dadurch konnten auch sie durch den Glauben Teilhaber der Auferstehung werden! Nun werde ich mich weiter aber nicht an Spekulationen darüber beteiligen, welche Überraschung uns der Herr am Ende aller Zeiten bereitet hat. Das übersteigt den menschlichen Verstand ums Unendliche. Ich möchte bloß nicht, dass wir dann wegen selbstgerechter Sorglosigkeit eine böse Überraschung erleben (s. Mt. 7: 21-23). Deshalb werde ich mich lieber an die Worte aus dem Morgengebet halten, in denen wir den Herrn bitten, unsere Gedanken mitsamt den (geistlichen) Augen zu erleuchten und unseren Verstand vom tiefen Schlaf der Trägheit erstehen zu lassen. Amen.
Orignalsprache:
Deutsch