Predigt zum 7. Herrentag nach Pfingsten (Röm. 15: 1-7; Mt. 9: 27-35) (07.08.2016)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

manchmal ist es nicht so einfach, aus einer vordergründig eindeutig erscheinenden neutestamentlichen Begebenheit einen allegorischen Hintergrund herauszukristallisieren. So verhält es sich mit der Heilung zweier Blinder, die für ihren Glauben an die Allmacht des Herrn das Augenlicht wiedererlangten,  und mit der anschließenden Heilung des von einem stummen Dämon Besessenen. In keinem der Fälle erscheint eine figurative Deutung naheliegend. Allerdings drängt sich im Neuen Testament bei der Konfrontation mit körperlicher Blindheit die Anspielung auf geistliche Blindheit auf. Der 6. Herrentag nach Ostern ist ja dem Blindgeborenen gewidmet, der nach der Waschung am Teich Schiloach sehend wird (s. Joh. 9: 1-38). Mit der Erlangung des physischen Sehvermögens wird der „an den Augen der Seele Erblindete“ (Troparion des Tages) auch geistlich sehend, indem er den Menschensohn als seinen Herrn und Erlöser erkennt (s. Joh. 9: 35-38). Gleichfalls gesundete Saulus nach Wiedererlangung des Augenlichtes an der Seele und wurde zu einem „auserwählten Werkzeug“ in Gottes Heilsplan (s. Apg. 9: 15). Auch der hl. apostelgleiche Großfürst Wladimir (+1015) entstieg nach zwischenzeitlicher Erblindung als körperlich und geistlich Sehender dem Taufbecken, worauf er ebenfalls zu einem auserwählten Gefäß Gottes wurde.

Kann man aber in Bezug auf uns, die wir regelmäßig am kirchlichen Leben teilnehmen, von geistlicher Blindheit sprechen? - Man kann. Sicherlich ist die überwiegende Mehrheit der aktiven Christen aufrichtig und ernsthaft bemüht im Glauben, aber sehr oft fehlt uns der „Durchblick“ in unserer Beziehung zu Gott. Wir können stundenlang in der Kirche oder zu Hause vor den Ikonen verharren, ohne dass wir wahrnehmen, dass wir in der Göttlichen Liturgie zusammen mit den Cherubim mystisch Gottes Thron umringen oder dass wir im häuslichen Gebet vor dem Angesicht Gottes knien. Dem hl. Seraphim erschien dagegen der Herr während der Liturgie, als dieser als junger Mönchsdiakon den Kleinen Einzug zelebrierte (worauf er für einige Zeit die Sprache verlor). Sein geistliches Auge war fähig, unverwandt das zu sehen, was den Blicken der meisten von uns verborgen bleibt. Wir sind selbst im konzentriert vorgetragenen Gebet so „geerdet“, dass wir mehr auf die buchstäbliche Aneinanderreihung der Worte des Gebetsbuches oder auf die korrekte Abfolge des im Gedächtnis gespeicherten Gebetstextes achten als auf die inbrünstige Zwiesprache mit dem Himmlischen Vater. Dieser will ja gerade nicht, dass wir uns Ihm gleichsam zitternde Sklaven einem machtbesessenen Despoten nähern, sondern dass wir in Ihm stets unseren liebevollen Vater sehen (s. Mt. 7: 7-11;  Lk. 11: 9-13). Aber gerade dazu bedarf es der geistlichen Sehkraft: Gott hat uns als Erben der unvergänglichen Schätze im Himmel auserkoren (s. Lk. 12: 33); Er will, dass wir uns mehr als alles andere um diesen Reichtum bemühen, dann wird uns auch alles übrige hinzugegeben werden (s. Lk. 12: 31). Alles andere käme einer Kränkung der Güte Gottes gleich. Lasst uns also „alle irdischen Sorgen beiseite legen“ und im Geiste vor Gott und den himmlischen Heerscharen stehen. Wenn das einmal geschehen ist, werden wir getrost unser Schicksal in Gottes Hände legen können. Dann wird unser Vertrauen in Gottes Güte und Barmherzigkeit grenzenlos sein, denn „Furcht gibt es in der Liebe nicht“ (1. Joh. 4: 18)

 

So aber merken wir leider auch nicht, dass wir im Gebet trotz ständiger Aktivität der Zunge und Belastung der Stimmbänder im geistlichen Sinne „stumm“ bleiben. Die Texte (z.B. der Morgen- und Abendgebete oder der Vorbereitungs- und Dankesgebete vor bzw. nach der Heiligen Kommunion) werden zwar akustisch vorgetragen, erreichen aber oftmals weder den Verstand noch das Herz. Wer soll uns erhören, wenn wir uns selbst nicht zuhören?! Kein Wunder also, dass wir uns angesichts der gegenwärtigen politischen Großwetterlage im Glauben schwach fühlen und um unsere Existenz bangen, weshalb viele von uns  wehmütig an vormalige Zeiten vermeintlicher Prosperität christlicher Reiche (Byzanz oder Russland) denken. Dabei sind die heute gelesenen Worte des Apostels sind für alle Zeiten aktuell geblieben, völlig unabhängig vom historischen Kontext: „Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben“ (Röm. 15: 1). Diese  Wortwahl ist gewiss nicht zufällig. Der Apostel schreibt ja nicht: „Die Starken unter uns sollen die Schwächen derer (unter uns) tragen, die schwach sind“; stark ist folglich jeder, der den Glauben als wertvollsten Schatz besitzt (s. Mt. 13: 44). Denn was ist das für ein Glaube, der mir keine Stärke verleiht (s. Mk. 9: 23;  Phil. 4: 13)?! Und wir haben den Glauben an die Auferstehung von den Toten, den wir sonntäglich gemeinsam bekennen. Also sind wir stark, selbst wenn wir äußerlich schwach sind (s. 2. Kor. 12: 9). Wenn wir also den Glauben haben und unser ganzes Leben und Handeln danach ausrichten, dann können wir dereinst von uns selbst sagen: „Uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm, und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles“ (2. Kor. 6: 10). Sollen andere auf ihre wirtschaftliche bzw. militärische Stärke oder auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit vertrauen. Was für uns zählt, ist die Standhaftigkeit im Glauben und die Gottestreue. Wäre dem nicht so, könnte man die gesamte biblische Geschichte als nicht authentisch verwerfen. So aber gelten die Worte für uns, die zu keiner Zeit an Bedeutung verloren haben: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben“ (Lk. 12: 32). Gottes Beschluss ist unverrückbar! Es liegt nun an jedem von uns, sich für das Reich Gottes zu entscheiden. Platz genug ist jedenfalls vorhanden (s. Joh. 14: 2-3). Amen.

Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch