Predigt zum Herrentag des Zöllners und des Pharisäers (2. Tim. 3: 10-15; Lk. 18: 10-14) (21.02.2016)

„So werden alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, verfolgt werden“ (2. Tim. 3: 12).

 

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

das Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer dient der inneren Weichenstellung für die bevorstehende Große Fastenzeit. Letztere soll unser Bewusstsein darin schärfen, was in unserem Leben – in unserer Beziehung zu Gott und den Mitmenschen – wirklich wichtig ist. Darum soll die notwendige Sorge um unser leibliches Wohl auf ein Mindestmaß reduziert und die Sorge um das Seelenheil an die erste Stelle gesetzt werden – ein Lebensgrundsatz, der auch über die Dauer der Fastenzeit hinaus aufrechterhalten werden sollte. 

Der Pharisäer sieht in der Befolgung äußerer Vorschriften den Weg zur Rechtfertigung vor Gott. Seine selbstgefälligen Worte stellen ja keine wirkliche Zwiesprache mit Gott dar. Er teilt Gott im Grunde nur mit, wie das Gerechtsein aus Gottes Sicht  auszusehen hat – basta! Er hört gar nicht auf die Stimme seines Gewissens oder Herzens. Es scheint geradezu, als ob diese beiden von Gott gegebenen Funktionsträger der menschlichen Seele abgeschaltet seien. Der Pharisäer merkt nicht, dass er dem Teufel auf den Leim gegangen ist. Ihm geht es materiell gut, er hat eine hohe gesellschaftliche Stellung und er sieht sich im Reinen mit Gott – sind das nicht gerade die drei Surrogate des Versuchers, mit denen er uns Christen ins Verderben treiben will, und das ohne dass wir uns bewusst von Gott oder der Kirche abwenden (s. Lk. 4: 1-13,  vgl. 1. Joh. 2: 16)?! … Auch Adam und Eva haben ja nicht direkt gegen Gott gesündigt, sondern wollten nur auf einem etwas anderen Weg „wie Gott“  sein (s. Gen. 3: 5-6). Der Pharisäer ist folglich zum Inbegriff der geistlichen Verblendung (slaw. прелесть) geworden – ein Zustand, in dem der Betreffende meint, als Auserwählter Gottes bereits von göttlicher Gnade erfüllt zu sein, wobei er in Wirklichkeit zum willfährigen Werkzeug des Widersachers und zum Gespött der Dämonen geworden ist. Der Teufel würde ja kaum soviel Erfolg haben, wenn er das alles offen in seinem Namen täte und die Menschen explizit zu seinem Dienst verleiten würde.

Der Zöllner spricht dagegen nur wenige Worte. Es kommt auch gar nicht auf die Menge der Worte an (s. Mt. 6: 7; 1. Kor. 14: 19). Gott versteht die Sprache des Herzens auch ohne Worte (s. Ps. 50: 19), denn „das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten“ (1. Kor. 1: 28).

Im abendländischen Christentum erhitzten sich einst die Gemüter über die Frage, wodurch der Mensch Rechtfertigung vor Gott erlangt: durch Werke oder durch Glauben? - Der Pharisäer hat Werke, die an sich gut sind, aber durch das Richten seines Nächsten verliert er die Gnade, wodurch seine ganze äußere Frömmigkeit wertlos ist. Er hat auch den Glauben, aber das Wichtigste fehlt ihm (s. 1. Kor. 13: 2). Der Zöllner hat keine Werke, aber durch einen zerknirschten Geist wird ihm Gnade zuteil – wie auch dem reuigen Schächer am Kreuze!

Heißt das aber nun, dass man überhaupt nicht urteilen soll?

In manchen Situationen muss man urteilen, beurteilen und sogar verurteilen. Ein Sachverständiger gibt eine Expertise (Expertenurteil) ab, ein Professor beurteilt die Dissertation eines Doktoranden, ein Richter verurteilt einen Gesetzesübertreter nach Recht und Ordnung. Auch wir dürfen im zwischenmenschlichen Bereich (Familie, Freundeskreis, Beruf) sachlich Kritik üben, und zwar mit dem Ziel, dem Adressaten konstruktive Optimierungsansätze anzubieten. Sobald wir aber (auch scheinbar sachlich) kritisieren, um unsere eigene Position zu stärken, oder wenn wir uns beim Beurteilen eines Mitmenschen genüsslich die Hände reiben, dann richten wir unseren Nächsten. Für alle Fälle gilt aber: „Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden“ (Mt. 7: 2). Auch die höchste Norm eines Christen – die Feindesliebe (s. Mt. 5: 44) – ist ein alles andere als utopisches Gebot. Aus menschlicher Schwäche kann ich meinen Feind, der mir nach dem Leben trachtet, nicht mit dem Herzen lieben wie meinen Bruder. Das erwartet Gott auch gar nicht von mir. Es gibt doch spezifische Formen der Liebe. Die Zuneigung zum Ehepartner (gr. eros), zu Verwandten (stergos), zu Dingen (philos) sind unterschiedliche Formen von Liebe, die allesamt natürlichen Ursprungs sind und im überwiegenden Maße nicht von Willen und Vernunft abhängig sind. Folglich kann ich einen unsympathischen und mir nicht wohlgesonnenen Menschen zwar nicht mit der emotionalen Kraft meiner Seele lieben, doch mit den anderen Kräften - dem Willen und dem Verstand – kann ich ihm gegenüber gerecht und sogar barmherzig sein (s. Röm. 12: 20). Das kann ich, wenn ich es will. Und wenn ich das konsequent durchziehe und Gott es will, werde ich meinen Feind womöglich auch mit dem Herzen lieben und mein Leben für ihn geben. Das geht aber nicht, wenn ich mich in autoerotischer Ekstase an meinen eigenen (vermeintlichen) Vorzügen ergötze.   

 

Gott hat mir die Urteilskraft gegeben, damit ich mich zuallererst kritisch mit mir selbst auseinandersetze. Wenn ich wie der Pharisäer gänzlich auf eine hinterfragende Betrachtung meines Innenlebens verzichte und dafür die äußeren Symptome der anderen mit umso strengerer Messschnur bewerte, dann bringe ich wie beim Grundschul-Rechnen Äpfel und Birnen durcheinander. Dann tue ich das, was der Beziehung zu Gott und dem Mitmenschen in Bezug auf das Seelenheil zutiefst abträglich ist. Mögen wir alle davor bewahrt werden! Amen.

Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch