Predigt zum 31. Herrentag nach Pfingsten / Gedenktag der Väter (Hebr. 11: 9-10, 17-23, 32-40; Mt. 1: 1-25)

Liebe Brüder und Schwestern, wieder einmal sind wir an dem Punkt im Kirchenjahr angelangt, an dem der Stammbaum Jesu Christi vorgelesen wird. Diese monoton anmutende Aufzählung von Namen beinhaltet eine sehr bewegte Geschichte, steht doch jeder dieser Namen für Prüfungen und Schwankungen bis hin zu Verrat, Unzucht und Mord. Die gesamte Tragik dieser Auflistung tritt in komprimierter Form im letzten Glied der Kette zutage – Jesus, „Der der Christus genannt wird“ (Mt. 1: 16). Es ist in Ultra-Kurzform die Heilsgeschichte des Alten Bundes, die in der Erscheinung des Messias kulminiert: Gott wurde offenbart im Fleisch (s. 1. Tim. 3: 16). Durch diese Namenskette würdigt die Kirche an diesem Tag die „Väter“, also alle leiblichen Vorfahren des Herrn, welche an der Menschwerdung Gottes beteiligt waren. Doch ebenso vernehmen wir am Herrentag vor Christi Geburt erstmals schon die Weihnachtsbotschaft selbst: „Mit der Geburt Jesu Christi war es so: ...“ (Mt. 1: 18). In aller Kürze wird wiedergegeben, wie der betagte Josef als Hüter der Jungfräulichkeit Mariens im Traum die Weisung erhält, die mit ihm Vermählte und vom Heiligen Geist Schwangere anzunehmen und dem Neugeborenen den Namen Jesus zu geben. Zur weiteren Hervorhebung des Geschehenen wird dem Josef die Prophezeiung Jesajas von der jungfräulichen Geburt (s. Mt. 1: 23 / Jes. 7: 14) ins Gedächtnis gerufen, vor allem aber, um ihn im Glauben an die Wirkungskraft Gottes zu stärken. Aus dem heute vorgetragenen Abschnitt wird aber auch deutlich, dass die gesamte biblische Geschichte – von der Erschaffung der Welt bis zur Niederkunft Mariens in einem Stall zu Bethlehem – nur das Vorspiel der Erscheinung des Messias darstellt. Mit der Erscheinung Gottes im Fleisch ist das eingetreten, um dessentwillen sich alles zuvor Geschehene ereignen musste. Der kleine Stall in einer winzigen Stadt am äußersten Rande der zivilisierten Welt wird unversehens zum Mittelpunkt des Universums! Bis heute schauen Menschen aus aller Welt einmal im Jahr gedanklich auf den Punkt, wo heute der goldene Stern in der Geburtskirche Christi steht und von den Gläubigen verehrt werden kann. Der Unfassbare wurde fassbar, der Zeitlose trat in die Geschichte ein, der Logos nahm Fleisch an. Doch wie es sich im Laufe der Jahrhunderte dank unserer modernen Lebensweise ergeben hat, ist die Hauptsache zur fast schon unbedeutenden Nebensache geworden. Alle jährlich wiederkehrenden Botschaften und Ansprachen zur Geburt des Erretters der Welt stellen dieses Ereignis selbst an den Rand des für sie eigentlich Wichtigen, nämlich des welt- oder sozialpolitischen Geschehens bzw. des individuellen Wohlergehens (Glück, Gesundheit, Erfolg etc., von der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes will ich hier gar nicht reden). Bestenfalls bedient man sich der Allegorie bzw. Parallelität der biblischen Ereignisse, um mit ihrer Hilfe den Sinn der Zuhörer oder Leser für irdische Belange zu schärfen. Was dabei durch einen anfangs evolutionären, inzwischen aber galoppierenden Prozess der Verzerrung herauskommen kann, entnahm ich neulich der Stellungnahme einer Bremer Pastorin zur Bedeutung des Weihnachtsfestes: „Wir lesen im Gottesdienst die Weihnachtsgeschichte. Dabei weiß jedes Kind, dass Maria keine Jungfrau war und der Heilige Geist nicht für ihre Schwangerschaft verantwortlich ist. Die Weihnachtsgeschichte hat so nicht stattgefunden. Und trotzdem ist sie das große Glaubensmärchen, das seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert im Christentum hat. Aber die Leute wollen eben nicht veräppelt werden. Wir haben die Aufklärung hinter uns und wissen, was an dieser Geschichte wahr ist und was nicht. Und trotzdem feiern wir, weil wir wissen, was uns daran wichtig ist“ („Glaubensmärchen und Marienverehrung“, Online-Ausgabe des Weser-Kuriers vom 23.12.2015). In zehn Jahren ist diese Minderheitsmeinung Mainstream-tauglich. Jede Wette! Dem kümmerlichen Rest derer, welche die Heilige Schrift bei sich zu Hause nicht in einem Bücherregal mit den Werken der Brüder Grimm stehen haben, wird dann nichts anderes übrigbleiben, als in der Zeitgeschichte die Erfüllung der von Gott bestimmten Vorsehung zu erkennen. Mutter Gavrilia (Papayannis, + 1992) hatte mal eine Vision: Jemand, Dessen Antlitz sie nicht erkennen konnte, flocht über den Wolken einen Teppich. Von unten sah sie nur einen Wust von bunten Fäden und Stricknadeln, und konnte nicht begreifen, was dies zu bedeuten habe. Dann erscholl eine Stimme: „Was du jetzt siehst, ist der Plan Gottes zur Errettung der Welt. Noch ist das Ganze für dich völlig unübersichtlich und scheint überhaupt keinen Sinn zu ergeben, aber sobald es fertig ist, wird das Gesamtwerk von solcher Schönheit und Harmonie sein, wie es sich die Menschen jetzt noch gar nicht vorstellen können“. Geschichte wird von Menschen gemacht, doch Gott führt Regie dabei. Er lässt auch Abweichungen vom Script zu, doch gelingt es Ihm immer wieder, alles miteinander in Einklang und zu einem guten Ende zu führen. Beispielgebend hierfür sind die weiblichen Vorfahren des Herrn, unter denen eine notgedrungen als Dirne verkleidete Blutschänderin (Tamar), eine ehemalige Hure (Rahab), eine bekehrte Heidin (Ruth) und eine durch lüsterne Begierde gezielt zur Witwe gemachte Soldatenfrau (Batseba) waren. Und doch graute es dem Herrn nicht davor, dem Gesetze nach aus ihnen allen hervorzugehen, dem Leibe nach aber aus der reinsten Jungfrau Maria menschliche Gestalt anzunehmen, da die Mutter des Herrn als Seiteneinsteigerin in diese Abstammungslinie (s. Mt. 1: 16) keinerlei Befleckung auf sich genommen hatte. Sie allein war auserkoren, unseren Erretter im Leibe zu tragen und zur Welt zu bringen. Amen.
Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch