Predigt zum 30. Herrentag nach Pfingsten / Gedenktag der Vorväter (Kol. 3: 4-11; Lk. 14: 16-24) (27.12.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

zum Gedenktag der Heiligen des Alten Bundes erinnern wir uns an zahlreiche biblische Begebenheiten: wunderbare, aber auch schreckliche Ereignisse, die mitunter einen offenbaren mythischen Untersatz erkennen lassen. Die Bücher des Alten Testamentes sind, zugegebenermaßen, in ihrem „Rohzustand“ für einen modernen Menschen kaum verständlich. Wenn schon die Juden zu biblischen Zeiten einen ausgeprägten Bedarf an Auslegung ihrer eigenen Geschichtsschreibung durch Schriftgelehrten hatten, so dürfte es jedem halbwegs klar denkenden Menschen heute bewusst sein, dass das Bemühen kulturell nicht in das Judentum eingebundener Individuen oder Gruppierungen, die Heilige Schrift in ihrer geistlichen Tiefe ohne göttlichen Beistand zu ergründen, ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Wenn schon ein kurzes Bibelzitat von zehn voneinander unabhängigen Personen auf zehnfach verschiedene Weise gedeutet wird, wie kann dann Einmütigkeit bei der Bewertung der bisweilen mythisch verklärten Gesamtheit der verschiedenen Bücher des Alten Bundes entstehen? Mit rein menschlichem Denken ist das nicht vorstellbar.

Die uns allen seit unserer Kindheit vertrauten Geschichten der Stammväter Israels, Knechtschaft und Auszug aus Ägypten, die blutige Eroberung des Gelobten Landes mit der Ausrottung der heidnischen Völker, die beispiellose Untreue des Volkes zur Zeit der Richter, der einsame Kampf der Propheten gegen die Vielgötterei während der Epoche der Könige, dann Eroberung Jerusalems und babylonische Gefangenschaft, Zerstörung des Heiligtums und Untergang des Staatswesens – all das ist nur der historische Boden, auf dem der Messias in der Welt erscheinen sollte, und zwar völlig unabhängig davon, ob das romantische Empfinden zartbesaiteter Zeitgenossen für die vorangegangene Geschichte empfänglich war oder nicht. Nur Seine Niederkunft auf die Erde, der konsequente „Eintritt“ Gottes in die Geschichte des Menschen verleiht dem ganzen Alten Testament seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung. Die Geschichte an sich ist aber so wie sie ist. Auch nach Christus. Nach den Worten Vater Alexander Schmemanns werden in der Bibel kaum einmal bedeutende Ereignisse aus weltgeschichtlicher Perspektive erwähnt. Das Territorium der im Alten Testament erwähnten Völker, deren Herrscher heute kaum jemand kennt, kann heutzutage binnen zwei Stunden überflogen werden. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Der Herr Selbst wurde in einem Viehstall am Rande einer Kleinstadt in einer völlig unbedeutenden Randprovinz des Römischen Reiches geboren, so wie unsere Erde nur eine kleine Kugel am Rande unseres Sonnensystems ist. Christus kam nicht als „Weltverbesserer“, denn Gott liegt ja nichts an einer Veränderung des Weltgeschehens, sondern - der Menschen. Historische Faktoren bilden nur die äußeren Rahmenbedingungen für Gottes Heilswirken in der Welt, wofür die Erwähnung des Namens eines unbedeutenden römischen Statthalters in unserem Glaubensbekenntnis beispielhaft ist. Sie belegen lediglich die Verankerung des göttlichen Wirkens auch in dieser Welt.

Gewiss sind auch andere Weltreligionen in einem historisch-kulturellen Rahmen, z.B. in Indien, Persien oder Arabien, entstanden. Allerdings war deren Genese „spontan“, also ohne eine historische Vorlaufzeit vonstatten gegangen. Sie war jeweils auf die Person nur eines Religionsstifters zurückzuführen, der von sich behauptete, einer Berufung von oben zu folgen. Der Messias hingegen wirft von der ersten Generation der Menschen (s. Gen. 3: 15) durch das Gesetz und die Propheten (s. Lk. 24: 25-27) Seinen Schatten voraus, und so ist Sein Kommen in die Welt für Israel alles andere als unerwartet (s. Mt. 2: 1-6), auch wenn zum betreffenden Zeitpunkt im fernen Rom kein Mensch davon Notiz nimmt. Weiter entstanden all die erwähnten prophetischen Zeugnisse zu völlig verschiedenen Epochen, in vollkommen unterschiedlichen Kulturkreisen und sogar in voneinander weit entfernten Plätzen der damals bekannten Welt, konnten folglich nicht miteinander abgestimmt sein. Somit ist die historische Wahrheit der Heiligen Schrift durch das Zeugnis mehrerer Generationen eines ganzen Volkes belegt und verbürgt: auf diesem Grund ist der wahre Glaube an den Dreieinigen Gott entstanden. Selbst die für den aufgeklärten Intellekt märchenhaft anmutenden und einer peniblen historisch-kritischen Untersuchung vermeintlich nicht standhaltenden Erzählungen über die Sintflut oder die Verwirrung der Sprachen zu Babylon finden ihren Widerhall in schriftlichen Zeugnissen anderer Völker (z.B. der Chaldäer). Letzte wissenschaftliche Zweifel über die historische Authentizität der Bibel dürfte schließlich die Entdeckung der Schriftrollen in Qumran (1947) ausgeräumt haben.

Diese Einbindung der Heilsgeschichte in die Weltgeschichte wird in den ersten Zeilen des Neuen Testamentes offenkundig (s. Mt. 1: 1-17;  Lk. 2: 1-2). Natürlich hat das Christentum die Welt auch im kulturellen und sozialen Sinne verändert, wenn auch, bedingt durch die sündhafte Schwachheit des Menschen und den Widerstand der Kräfte des Bösen, bei weitem nicht immer auf ideale Weise. Doch wenn schon die Tragik des Alten und Neuen Testamentes von uns als Heilsgeschichte verehrt wird, so kann doch auch die nach-biblische Epoche getrost als Zeit der Errettung angesehen werden. Diese Welt ist in ihrer komplexen Bedingtheit Schauplatz des Zusammenwirkens göttlicher Allmacht und menschlicher Begrenztheit. Demnach sind diese unvollkommenen Begleitumstände vollkommen ideal zur Erlangung des Himmelreichs und des ewigen Lebens für jeden einzelnen. Nur darauf kommt es Gott an! Amen. 

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch