Predigt zum Herrentag des Zöllners und des Pharisäers (2. Tim. 3: 10-15; Lk. 18: 10-14) (01.02.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

der heute vorgetragene kurze Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium zeigt, wie leicht es dem Widersacher fällt, gläubige Menschen ins Verderben zu stürzen, wenn sie sich nicht vom Hochmut und dem sich daraus ergebenden Richten der Mitmenschen loslösen. Zugleich widerlegt das vorliegende Gleichnis vom Zöllner und vom Pharisäer auf eindrucksvolle Weise die weit verbreitete Auffassung, dass man einfach nur an Gott glauben muss, um gerettet zu werden. Das Beispiel des Pharisäers zeigt, dass selbst maximale äußere Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit vor Gott nichts wert ist, wenn die zweite Hälfte des Doppelgebots von der Liebe (s. Mt. 22: 39;  Mk. 12: 31;  Lk. 10: 27) außer Acht gelassen wird. Wer also nicht ständig auf der Hut ist, wer nicht ständig die von den heiligen Vätern gelehrte geistliche Wachsamkeit an den Tag legt, kann sogar bei den besten äußeren Voraussetzungen und bei ernsthaftem Bemühen zu einer überaus leichten Beute des Feindes unserer Errettung werden. Denn durch das Richten unseres Nächsten verlieren wir im Nu die Gnade Gottes: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden“ (Mt. 7: 2; vgl. Mk. 4: 24 u. Lk. 6: 37).

Wir alle sind mit der natürlichen Urteilskraft ausgestattet, die ja zu unserem freien Wesen dazugehört. Doch im Zustand der gefallenen Natur verwenden wir diese Fähigkeit nicht zum Nutzen der Mitmenschen, mitunter gar zu unserem eigenen Schaden. Deshalb müssen wir verstehen, dass nur die Gnade Gottes, die wir in den Mysterien der Kirche in überreichem Maße empfangen - verbunden mit einem tugendhaften Leben aus menschlichem Vermögen -, uns aus diesem Zustand der Gottesentfremdung wieder herausführen kann. So verhält es sich auch bei allen seelenverderbenden Leidenschaften: Gott gab uns z.B. die Fähigkeit (gerecht) zu zürnen (s. Ps. 4: 5;  Eph. 4: 26), aber wir setzen diese Gabe oft zur Durchsetzung oder Bestätigung eigener Positionen durch, welche mit Gottes Willen nicht im geringsten einhergehen. Und so wird Gottes Gabe durch das Überhandnehmen der gefallenen Natur zur sündhaften Leidenschaft. Es gibt ja nach Gottes Heilsplan auch „eine Zeit zu Lieben und eine Zeit zu Hassen“ (Ekkl. / Koh. 3: 8) – das Böse zu hassen und das Gute zu lieben, aber nach unserem menschlichen Unheilsplan geschieht unter der Einwirkung des Versuchers oftmals das Gegenteil. Deshalb also ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir alle den Zustand göttlicher Gnade anstreben und in diesem dann verweilen. Das ist das Herzstück des Evangeliums, und nicht sozio-politische oder sozio-ökonomische Aspekte bzw. humanistische Denkmuster.

Wollen wir demzufolge die Reinheit des Herzens bewahren und niemals vergessen: „Gott ist der Richter“ (Ps. 74: 8). Wenn ich also meinen Nächsten richte, greife ich Gottes Urteilsspruch vor – eine ungeheuerliche Anmaßung! „Darum bist du unentschuldbar – wer du auch bist, Mensch -, wenn du richtest. Denn worin du den anderen richtest, darin verurteilst du dich selber, wenn du, der Richtende, dasselbe tust“ (Röm. 2: 1). Und die heiligen Väter sagen einhellig: „Sei gewiss: worin du deinen Bruder richtest, dessen machst du dich selber schuldig“. Darum sagt der Apostel weiter: „Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten. Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoss zu geben und ihn nicht zu Fall zu bringen“ (Röm. 14: 13). Unser Urteilsvermögen sollen und dürfen wir darauf verwenden, Schaden abzuwenden und, wenn möglich, dem Betroffenen zu helfen (s. Gal 6: 1), aber nicht dazu, ihn zu verurteilen.

Auch die weltliche Gesetzgebung gibt uns nur das Recht, ein Verbrechen zu melden, Hilfe herbeizurufen, gegebenenfalls die Opfer zu beschützen oder zu retten, sogar den Täter bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten – aber verurteilen (oder bestrafen) dürfen wir ihn nicht. Das ist Sache der Justiz, denn auch da gibt es ein Gewaltmonopol.

 

Ein paar Worte über den Zöllner. Er ist ein Sünder. Und noch deutet nichts darauf, dass er schon morgen radikal sein Leben ändern wird (wie sein Kollege, von dem wir letzte Woche hörten). Aber er macht zumindest den Anfang; er sieht ein, dass er momentan kein Gott gefälliges Leben führt. Wenn es nur nach inneren Gesichtspunkten ginge (nach Herz und Verstand), würde er wohl am liebsten sofort die Fesseln der Sündhaftigkeit ablegen. Aber da gibt es äußere Zwänge: sein Beruf, seine Familie, sein soziales Umfeld, die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Und eine Garantie, dass ihm sein plötzlicher Sinneswandel abgenommen wird, gibt es auch nicht. Er hat noch nicht die Kraft und die Weisheit, eine Kehrtwende zu vollziehen (sein Wille ist schwach), aber er bittet Gott um Gnade. Und Gott, Der all seine inneren und äußeren Lebensumstände kennt, sieht das. Wer sind dann wir, wenn wir so einen Menschen verurteilen?!

Wie viele aufrichtige und von Herzen gläubige Menschen gibt es heute, die z.B. in einer kirchlich nicht gesegneten Gemeinschaft leben, aber trotzdem Gott um Hilfe bitten und das Gebot der Nächstenliebe beherzigen?! Wenn es nur nach ihnen selbst gehen würde, hätten sie schon längst alles ins Reine gebracht, aber äußere Umstände hindern sie noch daran... Meines Erachtens kann solchen Brüdern und Schwestern pastorale Seelsorge, gepaart mit Geborgenheit in der Gemeinde, eher den Weg ins Himmelreich ebnen als der Scheiterhaufen (s. 1. Kor. 9: 21-22). - Oder brauchen etwa nur die Gesunden einen Arzt?

Eigentlich könnten wir an dieser Stelle Amen sagen, denn alles Notwendige ist gesagt. Wir wissen alle, dass der Pharisäer aus dem Gleichnis eine Art Stereotyp schlechthin für die in kirchlichen Kreisen weitverbreitete und hinlänglich bekannte Bigotterie ist. Man ist folglich geneigt, das Thema hier abzuschließen.

Aber unterschätzen wir den Teufel nicht, denn dem würde das perfekt ins Konzept passen. In seiner Gerissenheit hat er, weitestgehend unbemerkt, ein neues Modell des religiösen Pharisäertums „entworfen“ - eines, das wie für unsere heutige Zeit gemacht ist und das beinahe unbemerkt seine Kreise zieht.

Was meine ich damit? - Nun, das Gleichnis, das wir behandeln, ist zwar immer aktuell, aber trotzdem bezieht es sich rein inhaltlich auf einen vorgegebenen historischen Kontext, in dem der tiefe Sinn der Parabel zum Tragen kommt. Der Pharisäer steht für das „Establishment“; er nimmt für sich in Anspruch, aus gesellschaftlicher Perspektive auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Der Zöllner ist dagegen der Außenseiter, weil er sich nicht an die von der Majoritätskultur geforderten Regeln hält (er kollaboriert mit der verhassten Okkupationsmacht, nimmt seine Glaubensbrüder und Landsleute aus). Wir übersehen dabei aber sehr leicht, dass im Volk Gottes zu Zeiten des Alten und Neuen Testaments Frömmigkeit das Maß aller Dinge war, wie es in weiten Teilen wohl noch bis vor hundert Jahren auch in unserem Kulturkreis der Fall war. Frömmigkeit und Sittsamkeit galten als Norm, Unglaube und Sittenlosigkeit galten als abnorm. Aber heute ist es doch, wenn man für das Gros unserer Gesellschaft spricht, volkommen umgekehrt. Große Vorbilder sind heute je nach Jahrgang Mick Jagger, Lady Gaga und ihresgleichen. Frömmigkeit und ein Leben nach der seit Jahrhunderten überlieferten kirchlichen Ordnung gilt heute fast schon als verfassungswidrig. Es hat durch die Sekularisierung der Gesellschaft quasi ein Rollentausch stattgefunden, so dass wir Christen nun schrittweise an den Rand der Gesellschaft gedrängt und in absehbarer Zeit geächtet sein werden. Heute sind die vermeintlichen „Zöllner“ oft die „Pharisäer“, und umgekehrt. Und diese Erkenntnis sollte der Ausgangspunkt für eine Neuorientierung bei der Bestimmung des Begriffs des Pharisäertums sein.

 

Vor fünfzehn Jahren fuhr ich von Weimar zum Gottesdienst nach Kassel, da mir diese gerade erst im Aufbau befindliche Gemeinde damals anvertraut worden war. Eine Frau aus meiner hiesigen Gemeinde fuhr mit mir, um eine Freundin aus vergangenen Tagen, die jetzt in Kassel wohnte, zu besuchen. Als sie von unterwegs bei der Freundin anrief und dieser anbot, mit zum Gottesdienst zu kommen, war deren Reaktion eine Mischung aus Empörung und Unverständnis. Die Frau aus meiner Gemeinde fragte: „Glaubst du denn nicht an Gott?“ - „Doch“, war die Antwort, „aber doch nichts so, dass ich gleich auf den religiösen Trip abfahre“ (но не так прямо, чтобы удариться в религию). Und dieser Satz ist kennzeichnend für den „modernen“ Christen: der Glaube an Gott ist zur unwichtigsten Nebensache der Welt geworden! 

 

Sehr oft kriegen wir von sonntäglich Daheimgebliebenen zu Hören: „Wir können doch auch zu Hause beten“. - Richtig! Das könnt und sollt ihr auch. Aber erstaunlich ist, dass wenn sich doch einmal ein außergewöhnlicher Anlass für euch bietet (Taufe, Hochzeit, Begräbnis), um festlich gekleidet und hollywoodmäßig geschminkt in die Kirche zu kommen, ihr nur um das Kind herumhüpft (damit es sich nicht erkältet, damit es nicht verhungert oder verdurstet während der unendlich langen Zeremonie), ihr alle zwei Minuten den Schleier der Braut zurechtmacht und ständig darauf achtet, dass die Mädchen mit dem Blumensträußen auch die richtige Position für die Hochzeitsphotos einnehmen, dass die Trauergebinde neben dem Sarg richtig angeordnet und die letzten Grüße auf den Kränzen auch für alle gut lesbar sind,  - nur eines tut ihr bei alledem  nicht – nämlich beten.

Da ist mir der aufrechte Atheist oder Agnostiker fast schon lieber.

Mehr noch. Der lauwarme und kirchenfremde Durchschnittsgläubige von heute hat es bisweilen darauf angelegt, die ernsthaft bemühten Christen zu diskredittieren. Wie unter einem Vergrößerungsglas sieht er die tatsächlichen und vermeintlichen Schwächen der regelmäßigen Kirchgänger, freut sich insgeheim diebisch, wenn mal eine kirchlich geschlossene Ehe zu Bruch geht, wenn in seiner benachbarten Kirchengemeinde die Fetzen fliegen oder wenn streng nach kirchlichen Regeln erzogene Kinder ihre Altersgenossen an schlechtem Benehmen übertreffen. Darin sieht er sofort eine Bestätigung für die Richtigkeit seiner Grundeinstellung zum Glauben. Er sieht sich darin bestätigt, da seine Haltung ja die der Mehrheit, also „in“ ist, und mitten im Mainstream fühlt man sich eben am komfortabelsten. Er merkt nicht, dass er selbst von außen den Menschen gerecht erscheint, innen aber voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz ist (s. Mt. 23: 28). 

Und immer gibt es einen, der sich dann vor Freude darüber die Hände reibt...

 

Fürwahr, all die angesprochenen negativen Sachen gibt es in unserem kirchlichen Alltag, dazu unmoralisch handelnde Priester, Mönche, Bischöfe... Judas war ja einer von Zwölf, die der Herr Selbst auserwählt hatte. Aber eine öffentlich zur Schau gestellte Frömmigkeit zieht bei den nun vorherrschenden gesellschaftlichen Voraussetzungen nun wirklich nicht mehr. Eher sind es jene Personen, die im medialen Rampenlicht stehen, die sich heutzutage in Effekthascherei und PR-tauglichen Gesten übertreffen, um das Vertrauen und die Sympathien der Massen für sich zu gewinnen. Unbenommen dessen sind wir Gläubige auch nur Menschen, und der tatsächliche Bedarf an Selbstläuterung ist bei uns auf konstant rekordverdächtigem Niveau. Doch selbst wenn unsere„Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“ (Mt. 5: 20), haben wir immer noch das Mittel der Buße, um wenigsten noch mit dem letzten Atemzug in das Himmelreich zu kommen (s. ebd.). Wir sind es, die nur aus tiefstem Herzen zu sprechen brauchen: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk. 18: 13). Bei all unseren zweifellos vorhandenen Verfehlungen werden wir kirchlicherseits doch niemals im Glauben gelassen, wir seien schon vollkommen und müssten nichts mehr an uns ändern. Und das macht heute den grundlegenden Unterschied aus zwischen den „Zöllnern“ und „Pharisäern“ des 21. Jahrhunderts. Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch