6/19. September 1999 – Wunder des hl. Erzengels Michael in Chonae

Bote 1999-5
Predigt von Erzbischof Mark
aus Anlaß des 100-jährigen Jubiläums der Kirche Allerheiligen in Bad Homburg
6/19. September 1999 – Wunder des hl. Erzengels Michael in Chonae

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Liebe Brüder und Schwestern!
Heute hörten wir das Gleichnis von den Talenten. Das Volk Israel hatte viele Talente, aber es wollte nicht mit ihnen arbeiten, um sie zu vermehren. Deshalb ließ der Herr zu, daß der Tempel verwüstet wurde, und zersprengte das Auserwählte Volk. Aber Gott versprach noch im Alten Testament die Wiedereinsetzung Seines Opferpriesters, der alles, was in Meinem Herzen ist, und was in Meiner Seele ist, vollbringt, und Ich werde ihm ein wahres Haus errichten, und er wird vor Meinen Gesalbten vorausschreiten (1. Sam. 2, 35). Und dieses Gelöbnis Gottes ging in Erfüllung, da der Herr Seinen Einziggeborenen Sohn auf die Erde sandte, Seinen Wesenseinen Sohn, Der daher das erfüllte, was im Herzen und in der Seele des Himmlischen Vaters ist. Und Er schuf Ihm ein Haus - in erster Linie im Leib Christi, und darauf auch in der Leibern und Seelen aller Christen. Seitdem errichten auch wir Gotteshäuser - sei es in unserer Heimat oder in der Fremde.
Wir Christen wissen jedoch, daß wir immer Fremde sind, und die ganze Kirche Christi ist in dieser Welt auf der Wanderung. Schon der hl. Klemens von Rom schreibt in der Überschrift seines Sendschreibens an die Korinther: “Die in der Fremde in Rom lebende Kirche wendet sich an die Kirche, die in der Fremde in Korinth weilt”. Wir sind immer in der Fremde, solange wir das Väterliche Haus nicht erreicht haben. “Ein Fremdling bin ich bei Dir, und ein Pilger, wie all meine Väter” (Ps. 38, 13) sprach König David, als er sich auf dem Thron befand, in Ruhm und Reichtum und Macht. In dieser Fremde, auf der Erde, klammern wir uns an nichts und an niemanden, sondern fühlen stets, daß wir nur einen Inhalt, ein Ziel haben - die Gemeinschaft mit dem Herrn Christus. Zum Erlangen dieses Ziels ist unablässige Bewegung vonnöten, die für jeden Wanderer charakteristisch ist. Diese Bewegung vollzieht sich im Aufwärtsstreben, denn wer betet, kann niemals innehalten; sonst verliert er das Gebet, verliert den Inhalt, verliert das Ziel.
Unser Aufwärtsstreben jedoch ist zwiefach. Der erste Aufstieg wird nach dem Wort des Psalmensängers von Kraft zu Kraft (Ps. 83, 8) vollzogen. Von Kraft zu Kraft steigen wir auf, wenn wir die Gebote erfüllen: auf einem stützen wir uns auf, und schreiten fort zum nächsten, bis wir sie alle in natürlicher und selbstverständlicher Weise erfüllen. Dann werden die Tugenden für uns zu einem natürlichen Zustand, über den wir schon nicht mehr nachzudenken brauchen, dem wir vielmehr mit unserem ganzen Wesen, mit ganzer Seele und ganzem Herzen organisch zustreben. Das ist eben jenes Talent, das wir nicht begraben haben, nicht in der Erde versteckt, sondern mit welchem wir immer wieder arbeiten, und das wir vermehren, indem wir in der Ausübung jeder Tugend Erfahrung sammeln. So steigen wir auf, liebe Brüder und Schwestern, von Kraft zu Kraft.
Der zweite Aufstieg aber erfolgt nach dem Wort des Apostels von Herrlichkeit zu Herrlichkeit (2. Kor. 3, 18). Wir erlangen inneres Wissen, das uns zuvor fremd war, und erreichen durch dieses Bewußtsein, dieses Wissen, die Nähe zu dem Einen Geist, dem Heiligen Geist, Der die Heilige Dreiheit vollendet und uns an Ihr teilhaben läßt.
Von Kraft zu Kraft steigen wir auf, wenn wir die Heilige Schrift lesen, sie erforschen, indem wir im Gebet in sie eindringen; und sodann steigen wir auf von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wenn wir uns die Heilige Schrift schon nicht mehr nur mit dem Verstand aneignen, sondern wenn sie uns zur inneren geistlichen Schatzkammer wird und zum natürlichen Zustand unserer Seele. Dann ergreift der Geist der Heiligen Schrift von uns Besitz, führt uns zu immer neuer Herrlichkeit, offenbart uns den lichtstrahlenden Weg, der uns schließlich zum Quell des Lichtes, dem Herrn Selbst, führt. Und wenn wir uns Ihm annähern, Der die Himmel durchschritt (Hebr. 4, 14), dann erheben auch wir uns in die Himmel, lassen alles Niedrige und Niedere zurück und machen uns alles Erhabene zu eigen.
Auf diese Weise, liebe Brüder und Schwestern, siedeln wir aus dem materiellen Haus in das immaterielle, geistliche, überhimmlische Haus Gottes über, und folgen so Christus, Dem Überall Seienden und alles Erfüllenden. Er ist es auch, Der unsere Herzen erfüllt, wenn sie sich vom zeitlichen Verweilen auf der Erde losreißen und sich für das Verweilen in den Himmeln freimachen. Dieser Weg, liebe Brüder und Schwestern, nimmt im materiellen Gotteshaus, vor dem wir heute hier beten, seinen Anfang, und erlangt mit Gottes Hilfe seine Vollendung im Haus in den Höhen, in der neuen, ewigen Heimat, in die uns Gott der Herr aufnimmt, uns, die wir Fremde sind auf diese Erde, aber Einheimische in den Himmeln. Amen.