Zum Sonnabend des Totengedenkens - Stärker als der Tod ist die Liebe

Als Glieder der Orthodoxen Kirche betrachten wir die von der Kirche eingerichtete Gepflogenheit des Gedenkens aller bereits entschlafenen orthodoxen Christen, unserer Väter, Brüder und Schwestern, als eine uns gebotene Schuldigkeit. Tatsächlich ist diese heilige Sitte ein großes Geschenk der Liebe Gottes zu uns Sündern.
Nehmen wir zum Vergleich die heidnische Haltung den Entschlafenen gegenüber. Dabei muß gesagt werden, daß auch heute noch die Heiden einen ziemlich großen Teil der Menschheit ausmachen: das sind Hindus und Buddhisten und Feueranbeter, sowie die Vertreter der zahlreichen Kulte Afrikas und Südamerikas. Die Heiden fürchten sich gewöhnlich entweder vor ihren Toten oder vergöttern sie. Einige verbrennen die Toten, andere legen sie auf die Dächer spezieller Türme zum Fressen für die Vögel aus, andere wiederum trocknen die Köpfe der Toten und machen Idole daraus. Wahrhaft gräßlich ist die Haltung der Heiden ihren Verstorbenen gegenüber.
Und was schlägt uns der Atheismus vor? Mit der für ihn charakteristischen Gleichgültigkeit dem jenseitigen Schicksal der Verstorbenen gegenüber bietet er die Kremation. Das heißt eigentlich, dieselbe von den Heiden entlehnte Verbrennung der Leichen.
Wer das Tun und Treiben (beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion), welches der Kremation vorausgeht, einmal zu sehen bekam, weiß, welch ein herzerstarrendes Gefühl es hervorruft. Da ist ein großer leerer und unfreundlicher Saal, graue Wände, ein trübes, mattes Licht. Der Sarg wird in die Mitte des Saales gestellt. Eine Angestellte kommt heraus und mit trockener Stimme fordert sie die Verwandten auf, sich von dem Verstorbenen zu verabschieden. Alle weinen untröstlich, Schwere liegt auf den Gemütern. Danach wird der Sarg auf ein Fließband gelegt, mechanisch öffnen sich kleine Eisentüren in der Wand, und der Sarg mit der Leiche bewegt sich langsam zum Verbrennen hinein. Die Eisentüren in der Wand schließen sich quietschend. Bei dem gläubigen Menschen taucht unwillkürlich der Vergleich dieser Türen mit den Türen der Hölle auf, hinter denen das Höllenfeuer lodert.
Derart ist die Manifestation der Liebe der Atheisten zu ihren verstorbenen Verwandten. Da bleibt nur übrig, die jämmerliche Lage von Millionen von Menschen zu beweinen, die in der Finsternis des Heidentums, der Heterodoxie, abweichender Glaubensrichtungen und des Atheismus verweilen und daher der zum Heil führenden Obhut der Orthodoxen Kirche für ihre Seelen verlustig gehen – jener Fürsorge also, die nicht nur bis zum Tod des Körpers reicht, sondern sich auch auf das Leben der Seele jenseits des Grabes erstreckt.
Welch ein frappierender Unterschied in der Fürsorglichkeit der Kirche um die Seelen der entschlafenen Christen zu jenem Seelenverderb und jenem Spott, mit welchem die nichtorthodoxe Welt mit ihren Verstorbenen umgeht. Im Schoße der Orthodoxen Kirche begleitet der in die kirchlichen Gewänder gekleidete Priester den Neuentschlafenden auf dem Weg alles Irdischen. Gedämpft läutet die Glocke und ruft die Gläubigen zum Gebet für die Seele des Verschiedenen herbei. Ergreifend singt der Kirchenchor. Die Christen beten zum Herrn um die Vergebung der Sünden des gerade Verstorbenen und daß er zugezählt werde zu den Heiligen. Nach dem Totenamt wird der Sarg mit dem Leib der Erde übergeben.
Nach unserem Glauben werden die Leiber der Entschlafenen auf den Ruf der Posaune des Erzengels hin auferstehen, um vor das Gericht Gottes zu treten. In diesem Moment vereinigen sich die Leiber wieder mit ihren Seelen.
Aber wo bleiben die Seelen der Verstorbenen bis dahin? Sie gehen, nachdem sie sich von dem Leib getrennt haben, nach seinem physischem Ende also, in eine andere Welt. Dabei wird die bewußte Existenz der menschlichen Seele auch nicht für eine Minute unterbrochen. Hier stellt sich oft die Frage: „Wie kann man an das bewußte Leben der Seele nach dem Tod glauben, wenn bereits zu Lebzeiten die Menschen zeitweise in einen Zustand der Besinnungslosigkeit fallen, und es andere gibt, die geistig minderbemittelt sind?“ Man braucht sich nicht zu wundern. Das liegt daran, daß die Seele, die zu Lebzeiten mit dem Körper verbunden ist, mit Hilfe der Sinnesorgane dieses Köprers mit der sie umgebenden Welt in Verbindung tritt. Und deshalb kann die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und die Selbstwahrnehmung der Seele wegen einer Schädigung oder Überalterung der Gehirn- und Nervenzentren des Organismus oder einer mangelnden Funktion der Sinnesorgane beeinträchtigt werden.
Nach ihrer Trennung vom Leib ist die Seele bereits nicht mehr durch die Struktur der physischen Sinnesorgane gebunden und ihr Eigenbewußtsein wird ganz klar. Der menschlichen Seele öffnen sich nach dem physischen Tod zwei Wege: einer in das Reich des Lichtes, wo es keine Krankheit, Trauer und Seufzer gibt, der andere in die düsteren Gefilde der Finsternis. Und nur das Gebet der Kirche für die Verstorbenen kann die Seele aus dem Gefängnis der Hölle herausführen.
Uns ist es mit seltenen Ausnahmen nicht gegeben, über das jenseitige Schicksal unserer Verwandten etwas zu erfahren. Deshalb dürfen wir nie die Bitte im Gebet über ihre Begnadigung unterlassen. Selbst wenn wir ganz überzeugt von der Rechtschaffenheit dieses oder jenes Menschen wären, dann können und müssen wir auch in diesem Falle für ihn beten, weil er, der nun im Himmel weilt, uns von ebendort antwortet – das heißt, durch sein Gebet zum Herrn für die Vergebung unserer Versündigungen.
Indem wir für die Verstorbenen beten, bezeugen wir eben dadurch unsere aufrichtige, ungeheuchelte, uneigennützige Liebe zu ihnen. Wenn wir unseren auf Erden lebenden Verwandten Gutes erweisen, dann können sie uns dafür danken. Aber von den von uns Gegangenen können wir bereits keine materielle Hilfe mehr erwarten und trotzdem denken wir an sie und beten für sie, danken ihnen im Geiste und beweisen dadurch unsere Liebe zu ihnen. Diese christliche Liebe überwindet selbst den Tod und sie ist stärker als der Tod.
Dagegen steht fest, daß jener, der für seine Angehörigen nach deren physischem Ende nicht betet, sie auch zu ihren Lebzeiten mit eigennütziger, irdischer, aber keiner geistigen Liebe liebte. Weswegen einige von uns über das Gesagte nachdenken sollten. So wollen wir unsere Entschlafenen mit einer geistigen Liebe lieben, ihrer im Gebet gedenken, wodurch wir auch unseren Kindern ein gutes Beispiel geben, damit auch nach unserem Ende jemand da ist, der für uns betet.!
Mönch Vsevolod (Filipjev)
Jordanville, 1999.